Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_177.001 O lieber als dem Grafen mich vermählen pgo_177.004 pgo_177.012Heiß' von den Zinnen jenes Thurms mich springen, pgo_177.005 Da gehn, wo Räuber streifen, Schlangen lauern, pgo_177.006 Und kette mich an wilde Bären fest; pgo_177.007 Birg bei der Nacht mich in ein Todtenhaus pgo_177.008 Voll rasselnder Gebeine, Moderknochen, pgo_177.009 Und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern, pgo_177.010 Heiß' in ein frischgemachtes Grab mich gehn, pgo_177.011 Und in das Leichentuch des Todten hüllen. Shakespeare, Romeo und Julie. pgo_177.013Vollendet! Jhr habt freie Macht! Gehorcht pgo_177.014 pgo_177.030Dem Dämon, der euch sinnlos wüthend treibt! pgo_177.015 Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar! pgo_177.016 Laßt diese Halle selbst, die euch geboren, pgo_177.017 Den Schauplatz werden eures Wechselmords. pgo_177.018 Vor eurer Mutter Aug' zerstöret euch pgo_177.019 Mit euren eig'nen, nicht durch fremde Hände. pgo_177.020 Leib gegen Leib, wie das theban'sche Paar, pgo_177.021 Rückt auf einander an, und muthvoll ringend pgo_177.022 Umfanget euch mit eherner Umarmung! pgo_177.023 Leben um Leben tauschend siege Jeder, pgo_177.024 Den Dolch einbohrend in des andern Brust, pgo_177.025 Daß selbst der Tod nicht eure Zwietracht heile, pgo_177.026 Die Flamme selbst, des Feuers rothe Säule, pgo_177.027 Die sich von eurem Scheiterhaufen hebt, pgo_177.028 Sich zweigespalten von einander theile, pgo_177.029 Ein schaudernd Bild, wie ihr gestorben und gelebt. Schiller, Braut von Messina. pgo_177.031 pgo_177.001 O lieber als dem Grafen mich vermählen pgo_177.004 pgo_177.012Heiß' von den Zinnen jenes Thurms mich springen, pgo_177.005 Da gehn, wo Räuber streifen, Schlangen lauern, pgo_177.006 Und kette mich an wilde Bären fest; pgo_177.007 Birg bei der Nacht mich in ein Todtenhaus pgo_177.008 Voll rasselnder Gebeine, Moderknochen, pgo_177.009 Und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern, pgo_177.010 Heiß' in ein frischgemachtes Grab mich gehn, pgo_177.011 Und in das Leichentuch des Todten hüllen. Shakespeare, Romeo und Julie. pgo_177.013Vollendet! Jhr habt freie Macht! Gehorcht pgo_177.014 pgo_177.030Dem Dämon, der euch sinnlos wüthend treibt! pgo_177.015 Ehrt nicht des Hausgotts heiligen Altar! pgo_177.016 Laßt diese Halle selbst, die euch geboren, pgo_177.017 Den Schauplatz werden eures Wechselmords. pgo_177.018 Vor eurer Mutter Aug' zerstöret euch pgo_177.019 Mit euren eig'nen, nicht durch fremde Hände. pgo_177.020 Leib gegen Leib, wie das theban'sche Paar, pgo_177.021 Rückt auf einander an, und muthvoll ringend pgo_177.022 Umfanget euch mit eherner Umarmung! pgo_177.023 Leben um Leben tauschend siege Jeder, pgo_177.024 Den Dolch einbohrend in des andern Brust, pgo_177.025 Daß selbst der Tod nicht eure Zwietracht heile, pgo_177.026 Die Flamme selbst, des Feuers rothe Säule, pgo_177.027 Die sich von eurem Scheiterhaufen hebt, pgo_177.028 Sich zweigespalten von einander theile, pgo_177.029 Ein schaudernd Bild, wie ihr gestorben und gelebt. 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So erfreut bei dieser Figur zunächst das Redeschema durch <lb n="pgo_177.034"/> seinen Parallelismus, dann aber auch der vollständige Ausdruck des Gedankens. <lb n="pgo_177.035"/> Solche entgegengesetzte Bestimmungen nämlich ergänzen sich <lb n="pgo_177.036"/> mit Nothwendigkeit, da sie unter die höhere Einheit eines und desselben <lb n="pgo_177.037"/> Begriffes fallen; man kann den Begriff „gut“ nicht denken, ohne daß auch <lb n="pgo_177.038"/> „bös“ gleichzeitig, wenn auch nur in dämmernden Umrissen, über die <lb n="pgo_177.039"/> Schwelle des Bewußtseins tritt. Gerade das klare Aussprechen des entgegengesetzten, </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [177/0199]
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gesetzt werde, sondern daß die Seele auf einer logisch angestuften Leiter pgo_177.002
in die Höhe steige.
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O lieber als dem Grafen mich vermählen pgo_177.004
Heiß' von den Zinnen jenes Thurms mich springen, pgo_177.005
Da gehn, wo Räuber streifen, Schlangen lauern, pgo_177.006
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Und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern, pgo_177.010
Heiß' in ein frischgemachtes Grab mich gehn, pgo_177.011
Und in das Leichentuch des Todten hüllen.
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Shakespeare, Romeo und Julie.
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Vollendet! Jhr habt freie Macht! Gehorcht pgo_177.014
Dem Dämon, der euch sinnlos wüthend treibt! pgo_177.015
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Mit euren eig'nen, nicht durch fremde Hände. pgo_177.020
Leib gegen Leib, wie das theban'sche Paar, pgo_177.021
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Ein schaudernd Bild, wie ihr gestorben und gelebt.
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Schiller, Braut von Messina.
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6) Der Gegensatz (Antithese), eine Redefigur, welche Bestimmungen, pgo_177.032
die sich logisch gegenüberstehn, auch in den entsprechenden Satzgliedern pgo_177.033
gegenüberstellt. So erfreut bei dieser Figur zunächst das Redeschema durch pgo_177.034
seinen Parallelismus, dann aber auch der vollständige Ausdruck des Gedankens. pgo_177.035
Solche entgegengesetzte Bestimmungen nämlich ergänzen sich pgo_177.036
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Begriffes fallen; man kann den Begriff „gut“ nicht denken, ohne daß auch pgo_177.038
„bös“ gleichzeitig, wenn auch nur in dämmernden Umrissen, über die pgo_177.039
Schwelle des Bewußtseins tritt. Gerade das klare Aussprechen des entgegengesetzten,
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Zitationshilfe: | Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/199>, abgerufen am 16.07.2024. |