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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Der Buchenwald ist herbstlich schon geröthet, pgo_154.002
Sowie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben, pgo_154.003
Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben.
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Das Bächlein zieht und rieselt kaum zu hören pgo_154.005
Das Thal hinab, und seine Wellen gleiten, pgo_154.006
Wie durch das Sterbgemach die Freunde schreiten, pgo_154.007
Den letzten Traum des Lebens nicht zu stören.
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Lenau.

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Jn diesen schönen Vergleichungen ist nicht nur das tertium comparationis pgo_154.010
durch seine sinnliche Wahrheit einleuchtend, sondern die Bilder pgo_154.011
hauchen selbst jene melancholische Stimmung aus, welche die Einheit des pgo_154.012
ganzen Gedichtes ist. Das Dichtergemüth, das in eine bestimmte pgo_154.013
Situation versenkt ist, wird von selbst zu Vergleichungen greifen, welche pgo_154.014
aus ihr hervorgehn und z. B. das Naturbild mit der Stimmung der pgo_154.015
Seele verknüpfen. So singt Meissner "am Meere":

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Kaum daß ein leises Weh pgo_154.017
Durchgleitet mein Gemüth, pgo_154.018
Wie durch die stumme See pgo_154.019
Ein weißes Segel zieht.

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Jn den Vergleichungen Ossian's herrscht eine aller plastischen pgo_154.021
Anschauung widersprechende Gleichsetzung des Naturbildes und der pgo_154.022
Gemüthsstimmung, und zwar ist es bei ihm selten die Thierwelt, meist pgo_154.023
die landschaftliche Natur mit ihrer wechselnden Beleuchtung, welche ihm pgo_154.024
den Stoff seiner Bilder giebt. Wenn Homer seine Helden mit den pgo_154.025
Löwen, Firdusi mit den Elephanten vergleicht: so vergleicht sie Ossian pgo_154.026
mit der Sonne, mit der Wolke, mit dem Nebel. Nur ein pgo_154.027
Gemüth, das bereits seine eigene Stimmung in die Natur hineingeschaut, pgo_154.028
kann solche Bilder wieder aus ihr herausgreifen. Wenn z. B. pgo_154.029
Ossian sagt: "Angenehm sind die Worte des Gesanges und lieblich sind pgo_154.030
die Geschichten vergangener Zeiten. Sie sind wie der Thau des Morgens pgo_154.031
auf dem Rehhügel, wenn die Sonne schwach auf seiner Seite pgo_154.032
schimmert und der Teich unbewegt und blau in dem Thale steht" -- so pgo_154.033
liegt hier das tertium comparationis in der melancholischen Lieblichkeit pgo_154.034
des Eindruckes, die rein subjektiver Art ist, und nur in einem Nebenzug, pgo_154.035
im schwachen Schimmer der Sonne, liegt ein Halt für die Anschaulichkeit pgo_154.036
des Bildes.

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Ein weißes Segel zieht.

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Anschauung widersprechende Gleichsetzung des Naturbildes und der pgo_154.022
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[154/0176] pgo_154.001 Der Buchenwald ist herbstlich schon geröthet, pgo_154.002 Sowie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben, pgo_154.003 Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben. pgo_154.004 Das Bächlein zieht und rieselt kaum zu hören pgo_154.005 Das Thal hinab, und seine Wellen gleiten, pgo_154.006 Wie durch das Sterbgemach die Freunde schreiten, pgo_154.007 Den letzten Traum des Lebens nicht zu stören. pgo_154.008 Lenau. pgo_154.009 Jn diesen schönen Vergleichungen ist nicht nur das tertium comparationis pgo_154.010 durch seine sinnliche Wahrheit einleuchtend, sondern die Bilder pgo_154.011 hauchen selbst jene melancholische Stimmung aus, welche die Einheit des pgo_154.012 ganzen Gedichtes ist. Das Dichtergemüth, das in eine bestimmte pgo_154.013 Situation versenkt ist, wird von selbst zu Vergleichungen greifen, welche pgo_154.014 aus ihr hervorgehn und z. B. das Naturbild mit der Stimmung der pgo_154.015 Seele verknüpfen. So singt Meissner „am Meere“: pgo_154.016 Kaum daß ein leises Weh pgo_154.017 Durchgleitet mein Gemüth, pgo_154.018 Wie durch die stumme See pgo_154.019 Ein weißes Segel zieht. pgo_154.020 Jn den Vergleichungen Ossian's herrscht eine aller plastischen pgo_154.021 Anschauung widersprechende Gleichsetzung des Naturbildes und der pgo_154.022 Gemüthsstimmung, und zwar ist es bei ihm selten die Thierwelt, meist pgo_154.023 die landschaftliche Natur mit ihrer wechselnden Beleuchtung, welche ihm pgo_154.024 den Stoff seiner Bilder giebt. Wenn Homer seine Helden mit den pgo_154.025 Löwen, Firdusi mit den Elephanten vergleicht: so vergleicht sie Ossian pgo_154.026 mit der Sonne, mit der Wolke, mit dem Nebel. Nur ein pgo_154.027 Gemüth, das bereits seine eigene Stimmung in die Natur hineingeschaut, pgo_154.028 kann solche Bilder wieder aus ihr herausgreifen. Wenn z. B. pgo_154.029 Ossian sagt: „Angenehm sind die Worte des Gesanges und lieblich sind pgo_154.030 die Geschichten vergangener Zeiten. Sie sind wie der Thau des Morgens pgo_154.031 auf dem Rehhügel, wenn die Sonne schwach auf seiner Seite pgo_154.032 schimmert und der Teich unbewegt und blau in dem Thale steht“ — so pgo_154.033 liegt hier das tertium comparationis in der melancholischen Lieblichkeit pgo_154.034 des Eindruckes, die rein subjektiver Art ist, und nur in einem Nebenzug, pgo_154.035 im schwachen Schimmer der Sonne, liegt ein Halt für die Anschaulichkeit pgo_154.036 des Bildes.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/176>, abgerufen am 28.04.2024.