Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_140.001 Denn über meinem Haupt erscheinest du pgo_140.002 pgo_140.007Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote pgo_140.003 Des Himmels dem erstaunten, über sich pgo_140.004 Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die pgo_140.005 Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun pgo_140.006 Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken. Romeo und Julie. [Annotation]pgo_140.008 Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine sinnliche pgo_140.011 Eigenschaft einem geistigen Subject unterschieben. [Annotation] Einige Wendungen pgo_140.012 dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei pgo_140.013 übersieht z. B. glühende Leidenschaft, heller Sinn, brütender pgo_140.014 Gedanke, unergründlicher Schmerz. [Annotation] Dingelstedt spricht von pgo_140.015 "strohbedeckter und begnügter Stille," [Annotation] Shakespeare von pgo_140.016 "frostiger Warnung" (Richard II.), von verwirrten Tagen pgo_140.017 und faulen Zeiten (Heinrich IV.); [Annotation] pgo_140.018 O glänzende Zerrüttung, gold'ne Sorge. (Heinrich IV.) [Annotation] pgo_140.019Doch eh' die Kron', um die er wirbt, in Frieden pgo_140.020 Die Schläf' ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen pgo_140.021 Von zehentausend Muttersöhnen übel pgo_140.022 Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln pgo_140.023 Die Farbe ihres mädchenblassen Friedens pgo_140.024 Jn scharlach'ne Entrüstung. (Richard II.) [Annotation]pgo_140.025 gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom "harmon'- pgo_140.032 schen Zwist der Töne" spricht. (Sommernachtstraum.) Die pgo_140.033 Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die pgo_140.034 epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und pgo_140.035 das Drama. pgo_140.036 pgo_140.001 Denn über meinem Haupt erscheinest du pgo_140.002 pgo_140.007Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote pgo_140.003 Des Himmels dem erstaunten, über sich pgo_140.004 Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die pgo_140.005 Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun pgo_140.006 Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken. Romeo und Julie. [Annotation]pgo_140.008 Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine sinnliche pgo_140.011 Eigenschaft einem geistigen Subject unterschieben. [Annotation] Einige Wendungen pgo_140.012 dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei pgo_140.013 übersieht z. B. glühende Leidenschaft, heller Sinn, brütender pgo_140.014 Gedanke, unergründlicher Schmerz. [Annotation] Dingelstedt spricht von pgo_140.015 „strohbedeckter und begnügter Stille,“ [Annotation] Shakespeare von pgo_140.016 „frostiger Warnung“ (Richard II.), von verwirrten Tagen pgo_140.017 und faulen Zeiten (Heinrich IV.); [Annotation] pgo_140.018 O glänzende Zerrüttung, gold'ne Sorge. (Heinrich IV.) [Annotation] pgo_140.019Doch eh' die Kron', um die er wirbt, in Frieden pgo_140.020 Die Schläf' ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen pgo_140.021 Von zehentausend Muttersöhnen übel pgo_140.022 Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln pgo_140.023 Die Farbe ihres mädchenblassen Friedens pgo_140.024 Jn scharlach'ne Entrüstung. (Richard II.) [Annotation]pgo_140.025 gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom „harmon'- pgo_140.032 schen Zwist der Töne“ spricht. (Sommernachtstraum.) Die pgo_140.033 Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die pgo_140.034 epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und pgo_140.035 das Drama. pgo_140.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0162" n="140"/> <lb n="pgo_140.001"/> <anchor xml:id="go015"/> <lg> <l>Denn über meinem Haupt erscheinest du</l> <lb n="pgo_140.002"/> <l>Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote</l> <lb n="pgo_140.003"/> <l>Des Himmels dem erstaunten, über sich</l> <lb n="pgo_140.004"/> <l>Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die</l> <lb n="pgo_140.005"/> <l>Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun</l> <lb n="pgo_140.006"/> <l>Wenn er dahinfährt auf den <hi rendition="#g">trägen Wolken</hi>.</l> </lg> <lb n="pgo_140.007"/> <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Romeo und Julie</hi>.</hi> </p> <anchor xml:id="go016"/> <note targetEnd="#go016" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-1-1 #m1-3-1-10 #m1-7-2-0" target="#go015"> Unterkat.: Adj. d. Bez. <bibl><title>William Shakespeare: Romeo und Julia </title><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vndf_0</ref></bibl> </note> <p><lb n="pgo_140.008"/><anchor xml:id="go017"/> Die trägen Wolken (<foreign xml:lang="eng">lacy-pacing clouds</foreign>) sind es hier nur im <lb n="pgo_140.009"/> Gegensatze zu dem beschwingten Boten des Himmels (<foreign xml:lang="eng">winged messenger</foreign>)! <anchor xml:id="go018"/> <note targetEnd="#go018" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-2-1-1 #m1-3-1-10 #m1-4-1-0 #m1-7-2-0" target="#go017"> Unterkat.: Adj. der Bez. <bibl><title>William Shakespeare: Romeo und Julia </title><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vndf_0</ref></bibl> </note> <lb n="pgo_140.010"/> <anchor xml:id="go019"/> Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine <hi rendition="#g">sinnliche <lb n="pgo_140.011"/> Eigenschaft</hi> einem geistigen Subject unterschieben. <anchor xml:id="go020"/> <note targetEnd="#go020" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-7-2-0" target="#go019"> Unterkat.: Adjektiv der Beziehung</note> <anchor xml:id="go021"/> Einige Wendungen <lb n="pgo_140.012"/> dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei <lb n="pgo_140.013"/> übersieht z. 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Werk: ??? - Wortlaut?</note> <anchor xml:id="go025"/> Shakespeare von <lb n="pgo_140.016"/> „<hi rendition="#g">frostiger Warnung</hi>“ (<hi rendition="#g">Richard</hi> II.), von <hi rendition="#g">verwirrten Tagen</hi> <lb n="pgo_140.017"/> und <hi rendition="#g">faulen Zeiten</hi> (Heinrich IV.); <anchor xml:id="go026"/> <note targetEnd="#go026" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-1-1 #m1-4-2-0 #m1-3-1-10 #m1-7-2-0" target="#go025"><bibl><title>William Shakespeare: König Richard II </title><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vmw0_0</ref></bibl><bibl><title>William Shakespeare: König Heinrich IV </title><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnj5_0</ref></bibl></note> </p> <lb n="pgo_140.018"/> <anchor xml:id="go027"/> <lg> <l>O <hi rendition="#g">glänzende</hi> Zerrüttung, <hi rendition="#g">gold'ne</hi> Sorge.</l> </lg> <p>(Heinrich <hi rendition="#aq">IV</hi>.)</p> <anchor xml:id="go028"/> <note targetEnd="#go028" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-1-1 #m1-3-1-10 #m1-4-1-0 #m1-7-2-0" target="#go027"> </note> <lb n="pgo_140.019"/> <anchor xml:id="go029"/> <lg> <l>Doch eh' die Kron', um die er wirbt, in Frieden</l> <lb n="pgo_140.020"/> <l>Die Schläf' ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen</l> <lb n="pgo_140.021"/> <l>Von zehentausend Muttersöhnen übel</l> <lb n="pgo_140.022"/> <l>Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln</l> <lb n="pgo_140.023"/> <l>Die Farbe ihres <hi rendition="#g">mädchenblassen Friedens</hi></l> <lb n="pgo_140.024"/> <l>Jn <hi rendition="#g">scharlach'ne Entrüstung.</hi></l> </lg> <p>(Richard <hi rendition="#aq">II</hi>.)</p> <anchor xml:id="go030"/> <note targetEnd="#go030" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-1-1 #m1-3-1-10 #m1-4-1-0 #m1-7-2-0" target="#go029"> </note> <p><lb n="pgo_140.025"/><anchor xml:id="go031"/> Hier liegt in den Adjectiven eine allegorische Kraft. Wir sehen den <lb n="pgo_140.026"/> Frieden als ein blasses Mädchen, ihm gegenüber die scharlach'ne Entrüstung, <lb n="pgo_140.027"/> die blutrothe Kriegsfurie! Der Dichter kleidet durch diese <lb n="pgo_140.028"/> Adjectiva abstracte Begriffe in sinnliche Farben, aber nur die Beziehungen <lb n="pgo_140.029"/> des Gedankens machen es möglich, daß diese Haupt- und Beiwörter <lb n="pgo_140.030"/> zusammengestellt werden. <anchor xml:id="go032"/> <note targetEnd="#go032" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-2-1-1 #m1-3-1-10 #m1-4-1-0 #m1-7-2-0" target="#go031"> </note> Ja das Beiwort kann bis zum Gegensatz <lb n="pgo_140.031"/> gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom „<hi rendition="#g">harmon'- <lb n="pgo_140.032"/> schen Zwist</hi> der Töne“ spricht. (<hi rendition="#g">Sommernachtstraum.</hi>) Die <lb n="pgo_140.033"/> Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die <lb n="pgo_140.034"/> epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und <lb n="pgo_140.035"/> das Drama.</p> <p><lb n="pgo_140.036"/> Auch die Flora der Adjectiva läßt sich auf dem Wege der Zusammensetzung </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [140/0162]
pgo_140.001
Denn über meinem Haupt erscheinest du pgo_140.002
Der Nacht so glorreich, wie ein Flügelbote pgo_140.003
Des Himmels dem erstaunten, über sich pgo_140.004
Gekehrten Aug' der Menschensöhne, die pgo_140.005
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun pgo_140.006
Wenn er dahinfährt auf den trägen Wolken.
pgo_140.007
Romeo und Julie.
Unterkat.: Adj. d. Bez. William Shakespeare: Romeo und Julia https://textgridrep.org/browse/-/browse/vndf_0 pgo_140.008
Die trägen Wolken (lacy-pacing clouds) sind es hier nur im pgo_140.009
Gegensatze zu dem beschwingten Boten des Himmels (winged messenger)! Unterkat.: Adj. der Bez. William Shakespeare: Romeo und Julia https://textgridrep.org/browse/-/browse/vndf_0 pgo_140.010
Umgekehrt kann das Adjectivum der Beziehung eine sinnliche pgo_140.011
Eigenschaft einem geistigen Subject unterschieben. Unterkat.: Adjektiv der Beziehung Einige Wendungen pgo_140.012
dieser Art sind so gebräuchlich, daß man das Metaphorische dabei pgo_140.013
übersieht z. B. glühende Leidenschaft, heller Sinn, brütender pgo_140.014
Gedanke, unergründlicher Schmerz. Unterkat.: Adjektiv der Beziehung Dingelstedt spricht von pgo_140.015
„strohbedeckter und begnügter Stille,“ Dingelstedt? impl. Werk: ??? - Wortlaut? Shakespeare von pgo_140.016
„frostiger Warnung“ (Richard II.), von verwirrten Tagen pgo_140.017
und faulen Zeiten (Heinrich IV.); William Shakespeare: König Richard II https://textgridrep.org/browse/-/browse/vmw0_0 William Shakespeare: König Heinrich IV https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnj5_0
pgo_140.018
O glänzende Zerrüttung, gold'ne Sorge.
(Heinrich IV.)
pgo_140.019
Doch eh' die Kron', um die er wirbt, in Frieden pgo_140.020
Die Schläf' ihm deckt, da werden blut'ge Schläfen pgo_140.021
Von zehentausend Muttersöhnen übel pgo_140.022
Dem blüh'nden Antlitz Englands stehn, verwandeln pgo_140.023
Die Farbe ihres mädchenblassen Friedens pgo_140.024
Jn scharlach'ne Entrüstung.
(Richard II.)
pgo_140.025
Hier liegt in den Adjectiven eine allegorische Kraft. Wir sehen den pgo_140.026
Frieden als ein blasses Mädchen, ihm gegenüber die scharlach'ne Entrüstung, pgo_140.027
die blutrothe Kriegsfurie! Der Dichter kleidet durch diese pgo_140.028
Adjectiva abstracte Begriffe in sinnliche Farben, aber nur die Beziehungen pgo_140.029
des Gedankens machen es möglich, daß diese Haupt- und Beiwörter pgo_140.030
zusammengestellt werden. Ja das Beiwort kann bis zum Gegensatz pgo_140.031
gegen das Hauptwort fortgehn, wie z. B. Shakespeare vom „harmon'- pgo_140.032
schen Zwist der Töne“ spricht. (Sommernachtstraum.) Die pgo_140.033
Adjectiva der Bezeichnung passen mehr für das einfache Lied und die pgo_140.034
epische Dichtung, die der Beziehung für die gedankenvollere Lyrik und pgo_140.035
das Drama.
pgo_140.036
Auch die Flora der Adjectiva läßt sich auf dem Wege der Zusammensetzung
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Zitationshilfe: | Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/162>, abgerufen am 16.07.2024. |