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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Weisheit verstummt, darf die Schönheit noch reden und das Weltgeheimniß pgo_094.002
lösen! Vom Genie ist indeß die Genialität zu unterscheiden, pgo_094.003
die nur der unausgegohrene Drang des Genius ist! Jn allen Uebergangsepochen pgo_094.004
der Literatur wuchern die Genialitäten; was sie schaffen, pgo_094.005
sind Anläufe origineller Kraft, denen aber die große Durchbildung des pgo_094.006
Genius fehlt. Sie haben nicht die Sauberkeit, Gefälligkeit, nicht die pgo_094.007
schwunghafte Form des Talentes, ihnen fehlt sowohl der Fluß des pgo_094.008
Talentes, wie der Guß des Genies; es sind kometarische Naturen, pgo_094.009
umirrender Lichtdunst ohne sichere Bahn, vulkanisch zerklüftete Geister! pgo_094.010
Wohl hat auch das echte Genie etwas Vulkanisches; doch gleicht es darin pgo_094.011
der Sonne, deren Vulkane wir nicht sehen, wohl aber das Licht, das sie pgo_094.012
über so viele Welten ausströmen! Wir erinnern an Otway, an Lenz, an pgo_094.013
Grabbe, auch Heine und Byron stehn an der Schwelle des Genies, ohne pgo_094.014
sie ganz zu überschreiten! Hier fehlt nicht der Hauch, der Klang aus der pgo_094.015
Tiefe, der überraschende Blitz, der das Leben erhellt, aber es fehlt die pgo_094.016
große, stille Tiefe des Genius, in der die Welt sich spiegelt! Die Natur, pgo_094.017
die einen Shakespeare schaffen will, hält plötzlich inne im Schaffen und pgo_094.018
schafft nur einen Grabbe. Seine Dichtungen sind von demselben kosmischen pgo_094.019
Ursprung; aber es sind Meteorsteine und keine Welten! Hierher pgo_094.020
gehört auch die kokette Jronie der Romantiker, welche auf den Freibrief pgo_094.021
des Genies trotzen, ohne ihn zu besitzen! Heine dagegen hat das Auge pgo_094.022
des Genius; aber er schielt damit durch schlechte Gewöhnung, und nur pgo_094.023
selten sieht es uns an mit dem reinen und tiefen Blick. Die stille Naturkraft pgo_094.024
des Genius wird bei diesen Genialitäten trotzig, lärmend und herausfordernd; pgo_094.025
sie kehren das Herbe, Schroffe, Gigantische hervor, verachten pgo_094.026
die Form, die ihnen für ihren bedeutenden Jnhalt ein Hinderniß pgo_094.027
scheint, und bringen so nur schöne Fragmente hervor! Diese Gradbestimmungen pgo_094.028
der productiven Phantasie lassen noch viele Gliederungen pgo_094.029
und Uebergänge zu, bis zu jenen Diminutivtalenten herab, welche an der pgo_094.030
Grenze des Dilettantismus stehn und irgend eine chinesische Erzählung pgo_094.031
mit geschickter Porzellanmalerei auf die Theetische der ästhetischen Cirkel pgo_094.032
stellen.

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Die Dichternaturen, im Kreise ihrer Begeisterung lebend, können, wie pgo_094.034
es Goethe im "Tasso" geschildert, reizbar, launisch wechselnd in ihren pgo_094.035
Stimmungen sein! Wie das Gemälde der Phantasie innerlich ergreifender

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/116>, abgerufen am 24.11.2024.