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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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ein Gegebenes -- Genie ist die erhabene Sicherheit einer großen Natur, pgo_093.002
welche, um mit Kant zu sprechen, der Kunst die Regel giebt und aus dem pgo_093.003
frischen Born ihrer Originalität schöpft. Das Talent ist glänzend und pgo_093.004
blendend im Einzelnen, das Genie durchgreifend und bewältigend im pgo_093.005
Ganzen. Das Talent ist in vielen Satteln gerecht, das Genie vielleicht pgo_093.006
nur in Einem, aber in diesem Einen einzig. Es ist, wie Schelling sagt, pgo_093.007
"still, einfach, groß und nothwendig wie die Natur." Das Genie legt pgo_093.008
in Alles die ursprüngliche Kraft, Weihe und Fülle einer nur ihm eigenthümlichen pgo_093.009
Weltanschauung; es ist immer im Mittelpunkt der Welt und pgo_093.010
des geistigen Lebens. Das Talent verfolgt bald diese, bald jene Richtung; pgo_093.011
was ihm eigen scheint, ist oft anempfunden und angeweht, oder pgo_093.012
wo es ihm wirklich angehört, da fehlt ihm die Tiefe; es bewegt sich pgo_093.013
immer auf der Oberfläche der Welt! Das Genie hat das Organ für pgo_093.014
das Bedeutsame des Lebens; ihm ist die Anschauung der Jdeeen angeboren; pgo_093.015
es sieht das Ewige im Vergänglichen. Das Talent hat einzelne pgo_093.016
Lichtblicke, die es dem Genie nähern; aber im Ganzen ist es in alle vergänglichen pgo_093.017
Jnteressen des menschlichen Willens zu sehr verwickelt, zu pgo_093.018
flüchtig, um den Spiegel des Alls immer rein zu halten. Ueber der Form pgo_093.019
verliert es oft den Gehalt! Die Form des Talentes kann dem Anscheine pgo_093.020
nach glücklicher und glänzender sein, als die des Genies -- aber die pgo_093.021
Form des Genies trägt jenes Siegel höherer Nothwendigkeit, das sich pgo_093.022
nicht beliebig von seiner Schöpfung lösen läßt. Wie meisterhaft ist die pgo_093.023
Form bei Platen, Geibel und andern Talenten -- wie sehr aber fehlt pgo_093.024
ihr jenes eigenthümliche Arom, das einen Schiller, Shakespeare pgo_093.025
oder Jean Paul kennzeichnet, jener unsagbare "geistige Duft," der uns pgo_093.026
gefangen nimmt mit eigenthümlicher Trunkenheit, uns das Gefühl giebt, pgo_093.027
wir leben in einer Welt, die nur einmal existirt, in der Welt, die der pgo_093.028
Genius schuf! Jn der That haben diese Dichter einen stets auf das pgo_093.029
Große und Ganze der Welt und des Lebens gerichteten Sinn, und während pgo_093.030
die Werke des Talentes die mannichfachsten geistreichen Betrachtungen pgo_093.031
über menschliche Verhältnisse, über die Beziehungen des Lebens enthalten, pgo_093.032
die nach allen Seiten hin auf's Treffendste bezeichnet werden, pgo_093.033
finden wir in den Werken des Genies einen aus dem ewigen Grund des pgo_093.034
Lebens hervorsprudelnden Gedankenquell! Ebenso tief wie große Religionsstifter pgo_093.035
und Denker fassen jene Dichter das Leben auf, und wo die

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ein Gegebenes — Genie ist die erhabene Sicherheit einer großen Natur, pgo_093.002
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frischen Born ihrer Originalität schöpft. Das Talent ist glänzend und pgo_093.004
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ihr jenes eigenthümliche Arom, das einen Schiller, Shakespeare pgo_093.025
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die nach allen Seiten hin auf's Treffendste bezeichnet werden, pgo_093.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/115>, abgerufen am 06.05.2024.