Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlas¬
ses mit der künstlichsten Natur zu legen, so
daß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbil¬
dung weit über jenes Originalbildniß hinaus¬
reichte und ein allgemeines Entzücken erregte.
Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht
endigen, und der ganz natürliche Wunsch,
einem so schönen Wesen, das man genugsam
von der Rückseite gesehen, auch ins Angesicht
zu schauen, nahm dergestalt überhand, daß
ein lustiger ungeduldiger Vogel die Worte,
die man manchmal an das Ende einer Seite
zu schreiben pflegt: tournez s'il vous plait
laut ausrief und eine allgemeine Beystimmung
erregte. Die Darstellenden aber kannten
ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn
dieser Kunststücke zu wohl gefaßt, als daß
sie dem allgemeinen Ruf hätten nachgeben
sollen. Die beschämt scheinende Tochter blieb
ruhig stehen, ohne den Zuschauern den Aus¬
druck ihres Angesichts zu gönnen; der Vater
blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen,

geſorgt, die reichen Falten des weißen Atlaſ¬
ſes mit der kuͤnſtlichſten Natur zu legen, ſo
daß ganz ohne Frage dieſe lebendige Nachbil¬
dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬
reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte.
Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht
endigen, und der ganz natuͤrliche Wunſch,
einem ſo ſchoͤnen Weſen, das man genugſam
von der Ruͤckſeite geſehen, auch ins Angeſicht
zu ſchauen, nahm dergeſtalt uͤberhand, daß
ein luſtiger ungeduldiger Vogel die Worte,
die man manchmal an das Ende einer Seite
zu ſchreiben pflegt: tournez s'il vous plait
laut ausrief und eine allgemeine Beyſtimmung
erregte. Die Darſtellenden aber kannten
ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn
dieſer Kunſtſtuͤcke zu wohl gefaßt, als daß
ſie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben
ſollen. Die beſchaͤmt ſcheinende Tochter blieb
ruhig ſtehen, ohne den Zuſchauern den Aus¬
druck ihres Angeſichts zu goͤnnen; der Vater
blieb in ſeiner ermahnenden Stellung ſitzen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0095" n="92"/>
ge&#x017F;orgt, die reichen Falten des weißen Atla&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;es mit der ku&#x0364;n&#x017F;tlich&#x017F;ten Natur zu legen, &#x017F;o<lb/>
daß ganz ohne Frage die&#x017F;e lebendige Nachbil¬<lb/>
dung weit u&#x0364;ber jenes Originalbildniß hinaus¬<lb/>
reichte und ein allgemeines Entzu&#x0364;cken erregte.<lb/>
Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht<lb/>
endigen, und der ganz natu&#x0364;rliche Wun&#x017F;ch,<lb/>
einem &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;nen We&#x017F;en, das man genug&#x017F;am<lb/>
von der Ru&#x0364;ck&#x017F;eite ge&#x017F;ehen, auch ins Ange&#x017F;icht<lb/>
zu &#x017F;chauen, nahm derge&#x017F;talt u&#x0364;berhand, daß<lb/>
ein lu&#x017F;tiger ungeduldiger Vogel die Worte,<lb/>
die man manchmal an das Ende einer Seite<lb/>
zu &#x017F;chreiben pflegt: <hi rendition="#aq">tournez s'il vous plait</hi><lb/>
laut ausrief und eine allgemeine Bey&#x017F;timmung<lb/>
erregte. Die Dar&#x017F;tellenden aber kannten<lb/>
ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn<lb/>
die&#x017F;er Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;cke zu wohl gefaßt, als daß<lb/>
&#x017F;ie dem allgemeinen Ruf ha&#x0364;tten nachgeben<lb/>
&#x017F;ollen. Die be&#x017F;cha&#x0364;mt &#x017F;cheinende Tochter blieb<lb/>
ruhig &#x017F;tehen, ohne den Zu&#x017F;chauern den Aus¬<lb/>
druck ihres Ange&#x017F;ichts zu go&#x0364;nnen; der Vater<lb/>
blieb in &#x017F;einer ermahnenden Stellung &#x017F;itzen,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0095] geſorgt, die reichen Falten des weißen Atlaſ¬ ſes mit der kuͤnſtlichſten Natur zu legen, ſo daß ganz ohne Frage dieſe lebendige Nachbil¬ dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬ reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte. Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht endigen, und der ganz natuͤrliche Wunſch, einem ſo ſchoͤnen Weſen, das man genugſam von der Ruͤckſeite geſehen, auch ins Angeſicht zu ſchauen, nahm dergeſtalt uͤberhand, daß ein luſtiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu ſchreiben pflegt: tournez s'il vous plait laut ausrief und eine allgemeine Beyſtimmung erregte. Die Darſtellenden aber kannten ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn dieſer Kunſtſtuͤcke zu wohl gefaßt, als daß ſie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben ſollen. Die beſchaͤmt ſcheinende Tochter blieb ruhig ſtehen, ohne den Zuſchauern den Aus¬ druck ihres Angeſichts zu goͤnnen; der Vater blieb in ſeiner ermahnenden Stellung ſitzen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/95
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/95>, abgerufen am 02.05.2024.