Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden.
Diese, eine herrliche Gestalt, im faltenreichen
weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬
ten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint
anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt.
Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und
beschämend sey, sieht man aus der Miene
und Gebärde des Vaters; und was die Mut¬
ter betrifft, so scheint diese eine kleine Verle¬
genheit zu verbergen, indem sie in ein Glas
Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im
Begriff ist.

Bey dieser Gelegenheit nun sollte Luciane
in ihrem höchsten Glanze erscheinen. Ihre
Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und
Nacken, waren über alle Begriffe schön, und
die Taille, von der bey den modernen antiki¬
sirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬
nig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und
leicht zeigte sich an ihr in dem älteren Costüm
äußerst vortheilhaft; und der Architect hatte

ihm ſtehenden Tochter ins Gewiſſen zu reden.
Dieſe, eine herrliche Geſtalt, im faltenreichen
weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬
ten geſehen, aber ihr ganzes Weſen ſcheint
anzudeuten, daß ſie ſich zuſammennimmt.
Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und
beſchaͤmend ſey, ſieht man aus der Miene
und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬
ter betrifft, ſo ſcheint dieſe eine kleine Verle¬
genheit zu verbergen, indem ſie in ein Glas
Wein blickt, das ſie eben auszuſchluͤrfen im
Begriff iſt.

Bey dieſer Gelegenheit nun ſollte Luciane
in ihrem hoͤchſten Glanze erſcheinen. Ihre
Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und
Nacken, waren uͤber alle Begriffe ſchoͤn, und
die Taille, von der bey den modernen antiki¬
ſirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬
nig ſichtbar wird, hoͤchſt zierlich, ſchlank und
leicht zeigte ſich an ihr in dem aͤlteren Coſtuͤm
aͤußerſt vortheilhaft; und der Architect hatte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0094" n="91"/>
ihm &#x017F;tehenden Tochter ins Gewi&#x017F;&#x017F;en zu reden.<lb/>
Die&#x017F;e, eine herrliche Ge&#x017F;talt, im faltenreichen<lb/>
weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬<lb/>
ten ge&#x017F;ehen, aber ihr ganzes We&#x017F;en &#x017F;cheint<lb/>
anzudeuten, daß &#x017F;ie &#x017F;ich zu&#x017F;ammennimmt.<lb/>
Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und<lb/>
be&#x017F;cha&#x0364;mend &#x017F;ey, &#x017F;ieht man aus der Miene<lb/>
und Geba&#x0364;rde des Vaters; und was die Mut¬<lb/>
ter betrifft, &#x017F;o &#x017F;cheint die&#x017F;e eine kleine Verle¬<lb/>
genheit zu verbergen, indem &#x017F;ie in ein Glas<lb/>
Wein blickt, das &#x017F;ie eben auszu&#x017F;chlu&#x0364;rfen im<lb/>
Begriff i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Bey die&#x017F;er Gelegenheit nun &#x017F;ollte Luciane<lb/>
in ihrem ho&#x0364;ch&#x017F;ten Glanze er&#x017F;cheinen. Ihre<lb/>
Zo&#x0364;pfe, die Form ihres Kopfes, Hals und<lb/>
Nacken, waren u&#x0364;ber alle Begriffe &#x017F;cho&#x0364;n, und<lb/>
die Taille, von der bey den modernen antiki¬<lb/>
&#x017F;irenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬<lb/>
nig &#x017F;ichtbar wird, ho&#x0364;ch&#x017F;t zierlich, &#x017F;chlank und<lb/>
leicht zeigte &#x017F;ich an ihr in dem a&#x0364;lteren Co&#x017F;tu&#x0364;m<lb/>
a&#x0364;ußer&#x017F;t vortheilhaft; und der Architect hatte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0094] ihm ſtehenden Tochter ins Gewiſſen zu reden. Dieſe, eine herrliche Geſtalt, im faltenreichen weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬ ten geſehen, aber ihr ganzes Weſen ſcheint anzudeuten, daß ſie ſich zuſammennimmt. Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beſchaͤmend ſey, ſieht man aus der Miene und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬ ter betrifft, ſo ſcheint dieſe eine kleine Verle¬ genheit zu verbergen, indem ſie in ein Glas Wein blickt, das ſie eben auszuſchluͤrfen im Begriff iſt. Bey dieſer Gelegenheit nun ſollte Luciane in ihrem hoͤchſten Glanze erſcheinen. Ihre Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken, waren uͤber alle Begriffe ſchoͤn, und die Taille, von der bey den modernen antiki¬ ſirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬ nig ſichtbar wird, hoͤchſt zierlich, ſchlank und leicht zeigte ſich an ihr in dem aͤlteren Coſtuͤm aͤußerſt vortheilhaft; und der Architect hatte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/94
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/94>, abgerufen am 02.05.2024.