Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

ten, die meisten um daran zu zweifeln, und
wenige um sich glaubend dagegen zu ver¬
halten.

Jedes Bedürfniß dessen wirkliche Befrie¬
digung versagt ist, nöthigt zum Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte
Nanny war durch Berührung des frommen
Körpers wieder gesund geworden: warum
sollte nicht auch ein ähnliches Glück hier an¬
dern bereitet seyn? Zärtliche Mütter brachten
zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgend
einem Uebel behaftet waren, und sie glaubten
eine plötzliche Besserung zu spüren. Das
Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war Nie¬
mand so alt und so schwach, der sich nicht
an dieser Stelle eine Erquickung und Erleich¬
terung gesucht hätte. Der Zudrang wuchs
und man sah sich genöthigt die Capelle, ja
außer den Stunden des Gottesdienstes, die
Kirche zu verschließen.

ten, die meiſten um daran zu zweifeln, und
wenige um ſich glaubend dagegen zu ver¬
halten.

Jedes Beduͤrfniß deſſen wirkliche Befrie¬
digung verſagt iſt, noͤthigt zum Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerſchmetterte
Nanny war durch Beruͤhrung des frommen
Koͤrpers wieder geſund geworden: warum
ſollte nicht auch ein aͤhnliches Gluͤck hier an¬
dern bereitet ſeyn? Zaͤrtliche Muͤtter brachten
zuerſt heimlich ihre Kinder, die von irgend
einem Uebel behaftet waren, und ſie glaubten
eine ploͤtzliche Beſſerung zu ſpuͤren. Das
Zutrauen vermehrte ſich, und zuletzt war Nie¬
mand ſo alt und ſo ſchwach, der ſich nicht
an dieſer Stelle eine Erquickung und Erleich¬
terung geſucht haͤtte. Der Zudrang wuchs
und man ſah ſich genoͤthigt die Capelle, ja
außer den Stunden des Gottesdienſtes, die
Kirche zu verſchließen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0338" n="335"/>
ten, die mei&#x017F;ten um daran zu zweifeln, und<lb/>
wenige um &#x017F;ich glaubend dagegen zu ver¬<lb/>
halten.</p><lb/>
        <p>Jedes Bedu&#x0364;rfniß de&#x017F;&#x017F;en wirkliche Befrie¬<lb/>
digung ver&#x017F;agt i&#x017F;t, no&#x0364;thigt zum Glauben.<lb/>
Die vor den Augen aller Welt zer&#x017F;chmetterte<lb/>
Nanny war durch Beru&#x0364;hrung des frommen<lb/>
Ko&#x0364;rpers wieder ge&#x017F;und geworden: warum<lb/>
&#x017F;ollte nicht auch ein a&#x0364;hnliches Glu&#x0364;ck hier an¬<lb/>
dern bereitet &#x017F;eyn? Za&#x0364;rtliche Mu&#x0364;tter brachten<lb/>
zuer&#x017F;t heimlich ihre Kinder, die von irgend<lb/>
einem Uebel behaftet waren, und &#x017F;ie glaubten<lb/>
eine plo&#x0364;tzliche Be&#x017F;&#x017F;erung zu &#x017F;pu&#x0364;ren. Das<lb/>
Zutrauen vermehrte &#x017F;ich, und zuletzt war Nie¬<lb/>
mand &#x017F;o alt und &#x017F;o &#x017F;chwach, der &#x017F;ich nicht<lb/>
an die&#x017F;er Stelle eine Erquickung und Erleich¬<lb/>
terung ge&#x017F;ucht ha&#x0364;tte. Der Zudrang wuchs<lb/>
und man &#x017F;ah &#x017F;ich geno&#x0364;thigt die Capelle, ja<lb/>
außer den Stunden des Gottesdien&#x017F;tes, die<lb/>
Kirche zu ver&#x017F;chließen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[335/0338] ten, die meiſten um daran zu zweifeln, und wenige um ſich glaubend dagegen zu ver¬ halten. Jedes Beduͤrfniß deſſen wirkliche Befrie¬ digung verſagt iſt, noͤthigt zum Glauben. Die vor den Augen aller Welt zerſchmetterte Nanny war durch Beruͤhrung des frommen Koͤrpers wieder geſund geworden: warum ſollte nicht auch ein aͤhnliches Gluͤck hier an¬ dern bereitet ſeyn? Zaͤrtliche Muͤtter brachten zuerſt heimlich ihre Kinder, die von irgend einem Uebel behaftet waren, und ſie glaubten eine ploͤtzliche Beſſerung zu ſpuͤren. Das Zutrauen vermehrte ſich, und zuletzt war Nie¬ mand ſo alt und ſo ſchwach, der ſich nicht an dieſer Stelle eine Erquickung und Erleich¬ terung geſucht haͤtte. Der Zudrang wuchs und man ſah ſich genoͤthigt die Capelle, ja außer den Stunden des Gottesdienſtes, die Kirche zu verſchließen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/338
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/338>, abgerufen am 07.05.2024.