Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen. Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Thräne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter fähig zu seyn. Seine Theilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis' und Trank vermindert sich mit jedem Tage. Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬ sen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬ schlungenen Namenszüge und sein ernstheite¬ rer Blick dabey scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit emporzu¬ heben scheint; so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Ver¬ derben des Unglücklichen vereinigen. Denn eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬ setzen wieder: es war dasselbe und nicht das¬ selbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
Eduard wagte ſich nicht wieder zu der Abgeſchiedenen. Er lebte nur vor ſich hin, er ſchien keine Thraͤne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter faͤhig zu ſeyn. Seine Theilnahme an der Unterhaltung, ſein Genuß von Speiſ' und Trank vermindert ſich mit jedem Tage. Nur noch einige Erquickung ſcheint er aus dem Glaſe zu ſchluͤrfen, das ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬ ſen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬ ſchlungenen Namenszuͤge und ſein ernſtheite¬ rer Blick dabey ſcheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie den Gluͤcklichen jeder Nebenumſtand zu beguͤnſtigen, jedes Ungefaͤhr mit emporzu¬ heben ſcheint; ſo moͤgen ſich auch gern die kleinſten Vorfaͤlle zur Kraͤnkung, zum Ver¬ derben des Ungluͤcklichen vereinigen. Denn eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬ ſetzen wieder: es war daſſelbe und nicht daſ¬ ſelbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
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Eduard wagte ſich nicht wieder zu der
Abgeſchiedenen. Er lebte nur vor ſich hin,
er ſchien keine Thraͤne mehr zu haben, keines
Schmerzes weiter faͤhig zu ſeyn. Seine
Theilnahme an der Unterhaltung, ſein Genuß
von Speiſ' und Trank vermindert ſich mit
jedem Tage. Nur noch einige Erquickung
ſcheint er aus dem Glaſe zu ſchluͤrfen, das
ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬
ſen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬
ſchlungenen Namenszuͤge und ſein ernſtheite¬
rer Blick dabey ſcheint anzudeuten, daß er
auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Gluͤcklichen jeder Nebenumſtand
zu beguͤnſtigen, jedes Ungefaͤhr mit emporzu¬
heben ſcheint; ſo moͤgen ſich auch gern die
kleinſten Vorfaͤlle zur Kraͤnkung, zum Ver¬
derben des Ungluͤcklichen vereinigen. Denn
eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas
zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬
ſetzen wieder: es war daſſelbe und nicht daſ¬
ſelbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/339>, abgerufen am 08.05.2024.
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