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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Und so blieb er, wie er wollte, wie er
mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts,
wenn er sich mit ihr zusammenfand. Und so
war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben;
auch sie konnte sich dieser seligen Nothwen¬
digkeit nicht entziehen. Nach wie vor übten
sie eine unbeschreibliche, fast magische Anzie¬
hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬
ten unter Einem Dache; aber selbst ohne ge¬
rade an einander zu denken, mit andern Din¬
gen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und
her gezogen, näherten sie sich einander. Fan¬
den sie sich in Einem Saale, so dauerte es
nicht lange und sie standen, sie saßen neben
einander. Nur die nächste Nähe konnte sie
beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und
diese Nähe war genug; nicht eines Blickes,
nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner
Berührung bedurfte es, nur des reinen Zu¬
sammenseyns. Dann waren es nicht zwey
Menschen, es war nur Ein Mensch im be¬
wußtlosen vollkommnen Behagen, mit sich

Und ſo blieb er, wie er wollte, wie er
mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts,
wenn er ſich mit ihr zuſammenfand. Und ſo
war auch ihr dieſelbe Empfindung geblieben;
auch ſie konnte ſich dieſer ſeligen Nothwen¬
digkeit nicht entziehen. Nach wie vor uͤbten
ſie eine unbeſchreibliche, faſt magiſche Anzie¬
hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬
ten unter Einem Dache; aber ſelbſt ohne ge¬
rade an einander zu denken, mit andern Din¬
gen beſchaͤftigt, von der Geſellſchaft hin und
her gezogen, naͤherten ſie ſich einander. Fan¬
den ſie ſich in Einem Saale, ſo dauerte es
nicht lange und ſie ſtanden, ſie ſaßen neben
einander. Nur die naͤchſte Naͤhe konnte ſie
beruhigen, aber auch voͤllig beruhigen, und
dieſe Naͤhe war genug; nicht eines Blickes,
nicht eines Wortes, keiner Gebaͤrde, keiner
Beruͤhrung bedurfte es, nur des reinen Zu¬
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[308/0311] Und ſo blieb er, wie er wollte, wie er mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er ſich mit ihr zuſammenfand. Und ſo war auch ihr dieſelbe Empfindung geblieben; auch ſie konnte ſich dieſer ſeligen Nothwen¬ digkeit nicht entziehen. Nach wie vor uͤbten ſie eine unbeſchreibliche, faſt magiſche Anzie¬ hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬ ten unter Einem Dache; aber ſelbſt ohne ge¬ rade an einander zu denken, mit andern Din¬ gen beſchaͤftigt, von der Geſellſchaft hin und her gezogen, naͤherten ſie ſich einander. Fan¬ den ſie ſich in Einem Saale, ſo dauerte es nicht lange und ſie ſtanden, ſie ſaßen neben einander. Nur die naͤchſte Naͤhe konnte ſie beruhigen, aber auch voͤllig beruhigen, und dieſe Naͤhe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebaͤrde, keiner Beruͤhrung bedurfte es, nur des reinen Zu¬ ſammenſeyns. Dann waren es nicht zwey Menſchen, es war nur Ein Menſch im be¬ wußtloſen vollkommnen Behagen, mit ſich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/311>, abgerufen am 25.11.2024.