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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬
blicklichen Beyhülfe, für todt ansprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg
und Wiege neben einander zu sehen und zu
denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft,
sondern mit den Augen diese ungeheuern Ge¬
gensätze zusammenzufassen, war für die Um¬
stehenden eine schwere Aufgabe, je überraschen¬
der sie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬
tete den Eingeschlummerten, der noch immer
seine freundliche einnehmende Miene behalten
hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben
ihrer Seele war getödtet, warum sollte der
Körper noch erhalten werden?

Führten sie auf diese Weise gar manch¬
mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags
auf die Betrachtung der Vergänglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens; so waren ihr da¬
gegen wundersame nächtliche Erscheinungen
zum Trost gegeben, die ihr das Daseyn

und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬
blicklichen Beyhuͤlfe, fuͤr todt anſprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg
und Wiege neben einander zu ſehen und zu
denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft,
ſondern mit den Augen dieſe ungeheuern Ge¬
genſaͤtze zuſammenzufaſſen, war fuͤr die Um¬
ſtehenden eine ſchwere Aufgabe, je uͤberraſchen¬
der ſie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬
tete den Eingeſchlummerten, der noch immer
ſeine freundliche einnehmende Miene behalten
hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben
ihrer Seele war getoͤdtet, warum ſollte der
Koͤrper noch erhalten werden?

Fuͤhrten ſie auf dieſe Weiſe gar manch¬
mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags
auf die Betrachtung der Vergaͤnglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens; ſo waren ihr da¬
gegen wunderſame naͤchtliche Erſcheinungen
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[165/0168] und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬ blicklichen Beyhuͤlfe, fuͤr todt anſprechen. So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege neben einander zu ſehen und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, ſondern mit den Augen dieſe ungeheuern Ge¬ genſaͤtze zuſammenzufaſſen, war fuͤr die Um¬ ſtehenden eine ſchwere Aufgabe, je uͤberraſchen¬ der ſie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬ tete den Eingeſchlummerten, der noch immer ſeine freundliche einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben ihrer Seele war getoͤdtet, warum ſollte der Koͤrper noch erhalten werden? Fuͤhrten ſie auf dieſe Weiſe gar manch¬ mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergaͤnglichkeit, des Scheidens, des Verlierens; ſo waren ihr da¬ gegen wunderſame naͤchtliche Erſcheinungen zum Troſt gegeben, die ihr das Daſeyn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/168>, abgerufen am 25.11.2024.