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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Es war für Ottilien ein schrecklicher Au¬
genblick. Sie verstand es nicht, sie begriff es
nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume
Zeit entrissen war, konnte sie fühlen. Char¬
lotte fühlte den Zustand mit und ließ sie al¬
lein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre
Thränen zu schildern, sie litt unendlich. Sie
bat nur Gott, daß er ihr nur über diesen
Tag weghelfen möchte; sie überstand den
Tag und die Nacht, und als sie sich wieder¬
gefunden, glaubte sie ein anderes Wesen anzu¬
treffen.

Sie hatte sich nicht gefaßt, sich nicht er¬
geben, aber sie war, nach so großem Verluste,
noch da und hatte noch mehr zu befürchten.
Ihre nächste Sorge, nachdem das Bewußt¬
seyn wiedergekehrt, war sogleich: sie möchte
nun, nach Entfernung der Männer, gleichfalls
entfernt werden. Sie ahndete nichts von
Eduards Drohungen, wodurch ihr der Auf¬
enthalt neben Charlotten gesichert war; doch

Es war fuͤr Ottilien ein ſchrecklicher Au¬
genblick. Sie verſtand es nicht, ſie begriff es
nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume
Zeit entriſſen war, konnte ſie fuͤhlen. Char¬
lotte fuͤhlte den Zuſtand mit und ließ ſie al¬
lein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre
Thraͤnen zu ſchildern, ſie litt unendlich. Sie
bat nur Gott, daß er ihr nur uͤber dieſen
Tag weghelfen moͤchte; ſie uͤberſtand den
Tag und die Nacht, und als ſie ſich wieder¬
gefunden, glaubte ſie ein anderes Weſen anzu¬
treffen.

Sie hatte ſich nicht gefaßt, ſich nicht er¬
geben, aber ſie war, nach ſo großem Verluſte,
noch da und hatte noch mehr zu befuͤrchten.
Ihre naͤchſte Sorge, nachdem das Bewußt¬
ſeyn wiedergekehrt, war ſogleich: ſie moͤchte
nun, nach Entfernung der Maͤnner, gleichfalls
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Eduards Drohungen, wodurch ihr der Auf¬
enthalt neben Charlotten geſichert war; doch

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[274/0279] Es war fuͤr Ottilien ein ſchrecklicher Au¬ genblick. Sie verſtand es nicht, ſie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume Zeit entriſſen war, konnte ſie fuͤhlen. Char¬ lotte fuͤhlte den Zuſtand mit und ließ ſie al¬ lein. Wir wagen nicht ihren Schmerz, ihre Thraͤnen zu ſchildern, ſie litt unendlich. Sie bat nur Gott, daß er ihr nur uͤber dieſen Tag weghelfen moͤchte; ſie uͤberſtand den Tag und die Nacht, und als ſie ſich wieder¬ gefunden, glaubte ſie ein anderes Weſen anzu¬ treffen. Sie hatte ſich nicht gefaßt, ſich nicht er¬ geben, aber ſie war, nach ſo großem Verluſte, noch da und hatte noch mehr zu befuͤrchten. Ihre naͤchſte Sorge, nachdem das Bewußt¬ ſeyn wiedergekehrt, war ſogleich: ſie moͤchte nun, nach Entfernung der Maͤnner, gleichfalls entfernt werden. Sie ahndete nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Auf¬ enthalt neben Charlotten geſichert war; doch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/279>, abgerufen am 24.11.2024.