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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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lange: denn das Rauschen der Räder ver¬
kündigte ihnen sogleich die Nähe des gesuchten
Ortes.

Auf eine Klippe vorwärts tretend sahen
sie das alte schwarze wunderliche Holzgebäude
im Grunde vor sich, von steilen Felsen so
wie von hohen Bäumen umschattet. Sie
entschlossen sich kurz und gut über Moos und
Felstrümmer hinabzusteigen: Eduard voran;
und wenn er nun in die Höhe sah, und Ot¬
tilie leicht schreitend, ohne Furcht und Aengst¬
lichkeit, im schönsten Gleichgewicht von Stein
zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmli¬
sches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte.
Und wenn sie nun manchmal an unsicherer
Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja
sich auf seine Schulter stützte, dann konnte
er sich nicht verläugnen, daß es das zarteste
weibliche Wesen sey, das ihn berührte. Fast
hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, glei¬
ten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie

lange: denn das Rauſchen der Raͤder ver¬
kuͤndigte ihnen ſogleich die Naͤhe des geſuchten
Ortes.

Auf eine Klippe vorwaͤrts tretend ſahen
ſie das alte ſchwarze wunderliche Holzgebaͤude
im Grunde vor ſich, von ſteilen Felſen ſo
wie von hohen Baͤumen umſchattet. Sie
entſchloſſen ſich kurz und gut uͤber Moos und
Felstruͤmmer hinabzuſteigen: Eduard voran;
und wenn er nun in die Hoͤhe ſah, und Ot¬
tilie leicht ſchreitend, ohne Furcht und Aengſt¬
lichkeit, im ſchoͤnſten Gleichgewicht von Stein
zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmli¬
ſches Weſen zu ſehen, das uͤber ihm ſchwebte.
Und wenn ſie nun manchmal an unſicherer
Stelle ſeine ausgeſtreckte Hand ergriff, ja
ſich auf ſeine Schulter ſtuͤtzte, dann konnte
er ſich nicht verlaͤugnen, daß es das zarteſte
weibliche Weſen ſey, das ihn beruͤhrte. Faſt
haͤtte er gewuͤnſcht, ſie moͤchte ſtraucheln, glei¬
ten, daß er ſie in ſeine Arme auffangen, ſie

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[130/0135] lange: denn das Rauſchen der Raͤder ver¬ kuͤndigte ihnen ſogleich die Naͤhe des geſuchten Ortes. Auf eine Klippe vorwaͤrts tretend ſahen ſie das alte ſchwarze wunderliche Holzgebaͤude im Grunde vor ſich, von ſteilen Felſen ſo wie von hohen Baͤumen umſchattet. Sie entſchloſſen ſich kurz und gut uͤber Moos und Felstruͤmmer hinabzuſteigen: Eduard voran; und wenn er nun in die Hoͤhe ſah, und Ot¬ tilie leicht ſchreitend, ohne Furcht und Aengſt¬ lichkeit, im ſchoͤnſten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmli¬ ſches Weſen zu ſehen, das uͤber ihm ſchwebte. Und wenn ſie nun manchmal an unſicherer Stelle ſeine ausgeſtreckte Hand ergriff, ja ſich auf ſeine Schulter ſtuͤtzte, dann konnte er ſich nicht verlaͤugnen, daß es das zarteſte weibliche Weſen ſey, das ihn beruͤhrte. Faſt haͤtte er gewuͤnſcht, ſie moͤchte ſtraucheln, glei¬ ten, daß er ſie in ſeine Arme auffangen, ſie

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/135>, abgerufen am 08.05.2024.