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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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treten, sey das Paket immer schwerer gewor¬
den, und endlich als sie es auf die Stufen
des Altars gelegt, habe das Kind zu schreyen
angefangen, und habe sich zu jedermanns
Erstaunen aus dem Tuche losgemacht, nur
ein Knöchelchen des kleinen Fingers, an der
rechten Hand habe gefehlt, welches denn die
Mutter nachher noch sorgfältig aufgesucht
und gefunden, das denn auch noch zum Ge¬
dächtniß unter andern Reliquien in der Kirche
aufgehoben werde.

Auf die arme Mutter machten diese Ge¬
schichten großen Eindruck, ihre Einbildungs¬
kraft fühlte einen neuen Schwung, und be¬
günstigte die Empfindung ihres Herzens. Sie
nahm an, daß das Kind nunmehr für sich
und seine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch
und Strafe, die bisher auf ihnen geruht,
nunmehr gänzlich gehoben sey, daß es nur
darauf ankomme, die Gebeine des Kindes

treten, ſey das Paket immer ſchwerer gewor¬
den, und endlich als ſie es auf die Stufen
des Altars gelegt, habe das Kind zu ſchreyen
angefangen, und habe ſich zu jedermanns
Erſtaunen aus dem Tuche losgemacht, nur
ein Knöchelchen des kleinen Fingers, an der
rechten Hand habe gefehlt, welches denn die
Mutter nachher noch ſorgfältig aufgeſucht
und gefunden, das denn auch noch zum Ge¬
dächtniß unter andern Reliquien in der Kirche
aufgehoben werde.

Auf die arme Mutter machten dieſe Ge¬
ſchichten großen Eindruck, ihre Einbildungs¬
kraft fühlte einen neuen Schwung, und be¬
günſtigte die Empfindung ihres Herzens. Sie
nahm an, daß das Kind nunmehr für ſich
und ſeine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch
und Strafe, die bisher auf ihnen geruht,
nunmehr gänzlich gehoben ſey, daß es nur
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[450/0454] treten, ſey das Paket immer ſchwerer gewor¬ den, und endlich als ſie es auf die Stufen des Altars gelegt, habe das Kind zu ſchreyen angefangen, und habe ſich zu jedermanns Erſtaunen aus dem Tuche losgemacht, nur ein Knöchelchen des kleinen Fingers, an der rechten Hand habe gefehlt, welches denn die Mutter nachher noch ſorgfältig aufgeſucht und gefunden, das denn auch noch zum Ge¬ dächtniß unter andern Reliquien in der Kirche aufgehoben werde. Auf die arme Mutter machten dieſe Ge¬ ſchichten großen Eindruck, ihre Einbildungs¬ kraft fühlte einen neuen Schwung, und be¬ günſtigte die Empfindung ihres Herzens. Sie nahm an, daß das Kind nunmehr für ſich und ſeine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch und Strafe, die bisher auf ihnen geruht, nunmehr gänzlich gehoben ſey, daß es nur darauf ankomme, die Gebeine des Kindes

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/454>, abgerufen am 03.07.2024.