stellungsart so verwirrt, daß sie, ohne wahn¬ sinnig zu seyn, sich in den seltsamsten Zu¬ ständen befand. Ihr Vergehen schien ihr im¬ mer schrecklicher und straffälliger zu werden, das oft wiederholte Gleichniß des Geistlichen vom Inceste hatte sich so tief bey ihr einge¬ prägt, daß sie einen solchen Abscheu em¬ pfand, als wenn ihr das Verhältniß selbst bekannt gewesen wäre. Der Beichtvater dünkte sich nicht wenig über das Kunststück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬ schöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬ sehen, wie die Mutterliebe, die über das Daseyn des Kindes sich so herzlich zu er¬ freuen geneigt war, mit dem schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht da seyn sollte. Bald stritten diese beyden Ge¬ fühle zusammen, bald war der Abscheu über die Liebe gewaltig.
Man hatte das Kind schon lange von
ſtellungsart ſo verwirrt, daß ſie, ohne wahn¬ ſinnig zu ſeyn, ſich in den ſeltſamſten Zu¬ ſtänden befand. Ihr Vergehen ſchien ihr im¬ mer ſchrecklicher und ſtraffälliger zu werden, das oft wiederholte Gleichniß des Geiſtlichen vom Inceſte hatte ſich ſo tief bey ihr einge¬ prägt, daß ſie einen ſolchen Abſcheu em¬ pfand, als wenn ihr das Verhältniß ſelbſt bekannt geweſen wäre. Der Beichtvater dünkte ſich nicht wenig über das Kunſtſtück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬ ſchöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬ ſehen, wie die Mutterliebe, die über das Daſeyn des Kindes ſich ſo herzlich zu er¬ freuen geneigt war, mit dem ſchrecklichen Gedanken ſtritt, daß dieſes Kind nicht da ſeyn ſollte. Bald ſtritten dieſe beyden Ge¬ fühle zuſammen, bald war der Abſcheu über die Liebe gewaltig.
Man hatte das Kind ſchon lange von
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ſtellungsart ſo verwirrt, daß ſie, ohne wahn¬
ſinnig zu ſeyn, ſich in den ſeltſamſten Zu¬
ſtänden befand. Ihr Vergehen ſchien ihr im¬
mer ſchrecklicher und ſtraffälliger zu werden,
das oft wiederholte Gleichniß des Geiſtlichen
vom Inceſte hatte ſich ſo tief bey ihr einge¬
prägt, daß ſie einen ſolchen Abſcheu em¬
pfand, als wenn ihr das Verhältniß ſelbſt
bekannt geweſen wäre. Der Beichtvater
dünkte ſich nicht wenig über das Kunſtſtück,
wodurch er das Herz eines unglücklichen Ge¬
ſchöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzu¬
ſehen, wie die Mutterliebe, die über das
Daſeyn des Kindes ſich ſo herzlich zu er¬
freuen geneigt war, mit dem ſchrecklichen
Gedanken ſtritt, daß dieſes Kind nicht da
ſeyn ſollte. Bald ſtritten dieſe beyden Ge¬
fühle zuſammen, bald war der Abſcheu über
die Liebe gewaltig.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/450>, abgerufen am 23.11.2024.
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