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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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Wege der Natur abführen, und die edelsten
Triebe, durch schändlichen Zwang, zu Ver¬
brechen entstellen wollt. Zur größten Ver¬
wirrung des Geistes, zum schändlichsten Mi߬
brauche des Körpers nöthigt ihr die Schlacht¬
opfer
, die ihr lebendig begrabt.

Ich darf reden, denn ich habe gelitten
wie keiner, von der höchsten süßesten Fülle
der Schwärmerey bis zu den fürchterlichen
Wüsten der Ohnmacht, der Leerheit, der
Vernichtung und Verzweiflung, von den
höchsten Ahndungen überirdischer Wesen, bis
zu dem völligsten Unglauben, dem Unglau¬
ben an mir selbst. Allen diesen entsetzlichen
Bodensatz des am Rande schmeichelnden Kelchs
habe ich ausgetrunken, und mein ganzes We¬
sen war bis in ihr Innerstes vergiftet; nun
da mich die gütige Natur durch ihre größten
Gaben, durch die Liebe, wieder geheilt hat,
da ich an dem Busen eines himmlischen Mäd¬

Wege der Natur abführen, und die edelſten
Triebe, durch ſchändlichen Zwang, zu Ver¬
brechen entſtellen wollt. Zur größten Ver¬
wirrung des Geiſtes, zum ſchändlichſten Mi߬
brauche des Körpers nöthigt ihr die Schlacht¬
opfer
, die ihr lebendig begrabt.

Ich darf reden, denn ich habe gelitten
wie keiner, von der höchſten ſüßeſten Fülle
der Schwärmerey bis zu den fürchterlichen
Wüſten der Ohnmacht, der Leerheit, der
Vernichtung und Verzweiflung, von den
höchſten Ahndungen überirdiſcher Weſen, bis
zu dem völligſten Unglauben, dem Unglau¬
ben an mir ſelbſt. Allen dieſen entſetzlichen
Bodenſatz des am Rande ſchmeichelnden Kelchs
habe ich ausgetrunken, und mein ganzes We¬
ſen war bis in ihr Innerſtes vergiftet; nun
da mich die gütige Natur durch ihre größten
Gaben, durch die Liebe, wieder geheilt hat,
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[436/0440] Wege der Natur abführen, und die edelſten Triebe, durch ſchändlichen Zwang, zu Ver¬ brechen entſtellen wollt. Zur größten Ver¬ wirrung des Geiſtes, zum ſchändlichſten Mi߬ brauche des Körpers nöthigt ihr die Schlacht¬ opfer, die ihr lebendig begrabt. Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchſten ſüßeſten Fülle der Schwärmerey bis zu den fürchterlichen Wüſten der Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung und Verzweiflung, von den höchſten Ahndungen überirdiſcher Weſen, bis zu dem völligſten Unglauben, dem Unglau¬ ben an mir ſelbſt. Allen dieſen entſetzlichen Bodenſatz des am Rande ſchmeichelnden Kelchs habe ich ausgetrunken, und mein ganzes We¬ ſen war bis in ihr Innerſtes vergiftet; nun da mich die gütige Natur durch ihre größten Gaben, durch die Liebe, wieder geheilt hat, da ich an dem Buſen eines himmliſchen Mäd¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/440>, abgerufen am 22.11.2024.