ten nun ein für allemal vorbey gehen, man wollte Sie wenigstens sehen, so ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬ wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz gewis, ich paßte schon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand sie zu meiner Verwunde¬ rung in ihrer Officierstracht, sie sah unglaub¬ lich heiter und reizend aus. Verdien' ich nicht, sagte sie, heute in Mannstracht zu erscheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬ ten. Mein Geliebter soll mich heute wie das erstemal sehen, ich will ihn so zärtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken, als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr die seine als damals, da mich ein edler Ent¬ schluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber, fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu, noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß ich erst das Äußerste wagen, um seiner werth,
ten nun ein für allemal vorbey gehen, man wollte Sie wenigſtens ſehen, ſo ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬ wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz gewis, ich paßte ſchon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand ſie zu meiner Verwunde¬ rung in ihrer Officierstracht, ſie ſah unglaub¬ lich heiter und reizend aus. Verdien’ ich nicht, ſagte ſie, heute in Mannstracht zu erſcheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬ ten. Mein Geliebter ſoll mich heute wie das erſtemal ſehen, ich will ihn ſo zärtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken, als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr die ſeine als damals, da mich ein edler Ent¬ ſchluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber, fügte ſie nach einigem Nachdenken hinzu, noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß ich erſt das Äußerſte wagen, um ſeiner werth,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0168"n="164"/>
ten nun ein für allemal vorbey gehen, man<lb/>
wollte Sie wenigſtens ſehen, ſo ging der<lb/>
ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬<lb/>
wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz<lb/>
gewis, ich paßte ſchon an der Treppe, die<lb/>
Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr<lb/>
hinein. Ich fand ſie zu meiner Verwunde¬<lb/>
rung in ihrer Officierstracht, ſie ſah unglaub¬<lb/>
lich heiter und reizend aus. Verdien’ ich<lb/>
nicht, ſagte ſie, heute in Mannstracht zu<lb/>
erſcheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬<lb/>
ten. Mein Geliebter ſoll mich heute wie<lb/>
das erſtemal ſehen, ich will ihn ſo zärtlich<lb/>
und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken,<lb/>
als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr<lb/>
die ſeine als damals, da mich ein edler Ent¬<lb/>ſchluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber,<lb/>
fügte ſie nach einigem Nachdenken hinzu,<lb/>
noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß<lb/>
ich erſt das Äußerſte wagen, um ſeiner werth,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[164/0168]
ten nun ein für allemal vorbey gehen, man
wollte Sie wenigſtens ſehen, ſo ging der
ganze Tag unruhig hin. Nachts, zur ge¬
wöhnlichen Stunde, erwarteten wir Sie ganz
gewis, ich paßte ſchon an der Treppe, die
Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr
hinein. Ich fand ſie zu meiner Verwunde¬
rung in ihrer Officierstracht, ſie ſah unglaub¬
lich heiter und reizend aus. Verdien’ ich
nicht, ſagte ſie, heute in Mannstracht zu
erſcheinen? habe ich mich nicht brav gehal¬
ten. Mein Geliebter ſoll mich heute wie
das erſtemal ſehen, ich will ihn ſo zärtlich
und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken,
als damals; denn bin ich jetzt nicht vielmehr
die ſeine als damals, da mich ein edler Ent¬
ſchluß noch nicht frey gemacht hatte? Aber,
fügte ſie nach einigem Nachdenken hinzu,
noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß
ich erſt das Äußerſte wagen, um ſeiner werth,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/168>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.