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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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hatte, und er konnte gar wohl bemerken,
daß er, dem Geist und dem Sinne der Ge¬
sellschaft nach, wirklich längst verabschiedet
war.

Mit Ungedult erwartete er die Alte, die
ihm tief in der Nacht ihren sonderbaren Be¬
such angekündigt hatte. Sie wollte kommen,
wenn alles schlief, und verlangte solche Vor¬
bereitungen und Vorsichten, eben als wenn
das jüngste Mädchen sich zu einem Gelieb¬
ten schleichen wollte. Er las indeß Maria¬
nens Brief wohl hundertmal durch, las mit
unaussprechlichem Entzücken das Wort Treue
von ihrer geliebten Hand, und mit Entsetzen
die Ankündigung ihres Todes, dessen An¬
näherung sie nicht zu fürchten schien.

Mitternacht war vorbey, als etwas an
der halboffnen Thüre rauschte, und die Alte
mit einem Körbchen hereintrat: ich soll Euch,
sagte sie, die Geschichte unserer Leiden er¬

hatte, und er konnte gar wohl bemerken,
daß er, dem Geiſt und dem Sinne der Ge¬
ſellſchaft nach, wirklich längſt verabſchiedet
war.

Mit Ungedult erwartete er die Alte, die
ihm tief in der Nacht ihren ſonderbaren Be¬
ſuch angekündigt hatte. Sie wollte kommen,
wenn alles ſchlief, und verlangte ſolche Vor¬
bereitungen und Vorſichten, eben als wenn
das jüngſte Mädchen ſich zu einem Gelieb¬
ten ſchleichen wollte. Er las indeß Maria¬
nens Brief wohl hundertmal durch, las mit
unausſprechlichem Entzücken das Wort Treue
von ihrer geliebten Hand, und mit Entſetzen
die Ankündigung ihres Todes, deſſen An¬
näherung ſie nicht zu fürchten ſchien.

Mitternacht war vorbey, als etwas an
der halboffnen Thüre rauſchte, und die Alte
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[151/0155] hatte, und er konnte gar wohl bemerken, daß er, dem Geiſt und dem Sinne der Ge¬ ſellſchaft nach, wirklich längſt verabſchiedet war. Mit Ungedult erwartete er die Alte, die ihm tief in der Nacht ihren ſonderbaren Be¬ ſuch angekündigt hatte. Sie wollte kommen, wenn alles ſchlief, und verlangte ſolche Vor¬ bereitungen und Vorſichten, eben als wenn das jüngſte Mädchen ſich zu einem Gelieb¬ ten ſchleichen wollte. Er las indeß Maria¬ nens Brief wohl hundertmal durch, las mit unausſprechlichem Entzücken das Wort Treue von ihrer geliebten Hand, und mit Entſetzen die Ankündigung ihres Todes, deſſen An¬ näherung ſie nicht zu fürchten ſchien. Mitternacht war vorbey, als etwas an der halboffnen Thüre rauſchte, und die Alte mit einem Körbchen hereintrat: ich ſoll Euch, ſagte ſie, die Geſchichte unſerer Leiden er¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/155>, abgerufen am 23.11.2024.