Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

und mich ersucht, einige dieser Schriften
durchzublättern, und wäre es auch nur, um
ein psychologisches Phänomen kennen zu ler¬
nen. Ich hielt den Grafen für einen gar
zu argen Ketzer; so ließ ich auch das Ebers¬
dorfer Gesangbuch bey mir liegen, das mir
der Freund in ähnlicher Absicht gleichsam
aufgedrungen hatte.

In dem völligen Mangel aller äußeren
Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬
gefähr das gedachte Gesangbuch, und fand
zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin,
die, freylich unter sehr seltsamen Formen,
auf dasjenige zu deuten schienen, was ich
fühlte; die Originalität und Naivität der
Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬
gen schienen auf eine eigene Weise ausge¬
druckt; keine Schulterminologie erinnerte an
etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward
überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,

und mich erſucht, einige dieſer Schriften
durchzublättern, und wäre es auch nur, um
ein pſychologiſches Phänomen kennen zu ler¬
nen. Ich hielt den Grafen für einen gar
zu argen Ketzer; ſo ließ ich auch das Ebers¬
dorfer Geſangbuch bey mir liegen, das mir
der Freund in ähnlicher Abſicht gleichſam
aufgedrungen hatte.

In dem völligen Mangel aller äußeren
Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬
gefähr das gedachte Geſangbuch, und fand
zu meinem Erſtaunen wirklich Lieder darin,
die, freylich unter ſehr ſeltſamen Formen,
auf dasjenige zu deuten ſchienen, was ich
fühlte; die Originalität und Naivität der
Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬
gen ſchienen auf eine eigene Weiſe ausge¬
druckt; keine Schulterminologie erinnerte an
etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward
überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0315" n="309"/>
und mich er&#x017F;ucht, einige die&#x017F;er Schriften<lb/>
durchzublättern, und wäre es auch nur, um<lb/>
ein p&#x017F;ychologi&#x017F;ches Phänomen kennen zu ler¬<lb/>
nen. Ich hielt den Grafen für einen gar<lb/>
zu argen Ketzer; &#x017F;o ließ ich auch das Ebers¬<lb/>
dorfer Ge&#x017F;angbuch bey mir liegen, das mir<lb/>
der Freund in ähnlicher Ab&#x017F;icht gleich&#x017F;am<lb/>
aufgedrungen hatte.</p><lb/>
            <p>In dem völligen Mangel aller äußeren<lb/>
Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬<lb/>
gefähr das gedachte Ge&#x017F;angbuch, und fand<lb/>
zu meinem Er&#x017F;taunen wirklich Lieder darin,<lb/>
die, freylich unter &#x017F;ehr &#x017F;elt&#x017F;amen Formen,<lb/>
auf dasjenige zu deuten &#x017F;chienen, was ich<lb/>
fühlte; die Originalität und Naivität der<lb/>
Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬<lb/>
gen &#x017F;chienen auf eine eigene Wei&#x017F;e ausge¬<lb/>
druckt; keine Schulterminologie erinnerte an<lb/>
etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward<lb/>
überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[309/0315] und mich erſucht, einige dieſer Schriften durchzublättern, und wäre es auch nur, um ein pſychologiſches Phänomen kennen zu ler¬ nen. Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; ſo ließ ich auch das Ebers¬ dorfer Geſangbuch bey mir liegen, das mir der Freund in ähnlicher Abſicht gleichſam aufgedrungen hatte. In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬ gefähr das gedachte Geſangbuch, und fand zu meinem Erſtaunen wirklich Lieder darin, die, freylich unter ſehr ſeltſamen Formen, auf dasjenige zu deuten ſchienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬ gen ſchienen auf eine eigene Weiſe ausge¬ druckt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/315
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/315>, abgerufen am 26.05.2024.