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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör[¬]
ner und keine Augen; sie tastet nur und
sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und
schauen dürfte!

Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die
Predigten; aber ach! wie geschahe mir. Ich
fand das nicht mehr was ich sonst gefunden.
Diese Prediger stumpften sich die Zähne an
den Schalen ab, indessen ich den Kern ge¬
noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬
den; aber mich an den allein zu halten, den
ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu
verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere
Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬
nes geistiges Bedürfniß zu fühlen.

Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬
thischen Gemeinde in Verbindung gestanden;
in seiner Bibliothek fanden sich noch viele
Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬
mal sehr klar und billig darüber gesprochen,

fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör[¬]
ner und keine Augen; ſie taſtet nur und
ſieht nicht; ach! daß ſie Augen bekäme und
ſchauen dürfte!

Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die
Predigten; aber ach! wie geſchahe mir. Ich
fand das nicht mehr was ich ſonſt gefunden.
Dieſe Prediger ſtumpften ſich die Zähne an
den Schalen ab, indeſſen ich den Kern ge¬
noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬
den; aber mich an den allein zu halten, den
ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu
verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere
Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬
nes geiſtiges Bedürfniß zu fühlen.

Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬
thiſchen Gemeinde in Verbindung geſtanden;
in ſeiner Bibliothek fanden ſich noch viele
Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬
mal ſehr klar und billig darüber geſprochen,

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[308/0314] fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör¬ ner und keine Augen; ſie taſtet nur und ſieht nicht; ach! daß ſie Augen bekäme und ſchauen dürfte! Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach! wie geſchahe mir. Ich fand das nicht mehr was ich ſonſt gefunden. Dieſe Prediger ſtumpften ſich die Zähne an den Schalen ab, indeſſen ich den Kern ge¬ noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬ den; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬ nes geiſtiges Bedürfniß zu fühlen. Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬ thiſchen Gemeinde in Verbindung geſtanden; in ſeiner Bibliothek fanden ſich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬ mal ſehr klar und billig darüber geſprochen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/314>, abgerufen am 26.05.2024.