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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken,
Orgeln und Gesänge, und besonders die Vor¬
träge unserer Lehrer. Auf sie war ich ganz
unsäglich begierig; keine Witterung, keine
körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬
chen zu besuchen, und nur das sonntägige
Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬
bette einige Ungeduld verursachen. Unsern
Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann
war, hörte ich mit großer Neigung, auch
seine Collegen waren mir werth, und ich
wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬
tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬
nem Obste heraus zu finden. Den öffentli¬
chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬
erbauungen, wie man sie nennt, hinzugefügt
und auch dadurch nur Phantasie und feine¬
re Sinnlichkeit genährt. Ich war so an die¬
sen Gang gewöhnt, ich respectirte ihn so
sehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬

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verſchaffen uns kirchliche Anſtalten, Glocken,
Orgeln und Geſänge, und beſonders die Vor¬
träge unſerer Lehrer. Auf ſie war ich ganz
unſäglich begierig; keine Witterung, keine
körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬
chen zu beſuchen, und nur das ſonntägige
Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬
bette einige Ungeduld verurſachen. Unſern
Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann
war, hörte ich mit großer Neigung, auch
ſeine Collegen waren mir werth, und ich
wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬
tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬
nem Obſte heraus zu finden. Den öffentli¬
chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬
erbauungen, wie man ſie nennt, hinzugefügt
und auch dadurch nur Phantaſie und feine¬
re Sinnlichkeit genährt. Ich war ſo an die¬
ſen Gang gewöhnt, ich reſpectirte ihn ſo
ſehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬

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[307/0313] verſchaffen uns kirchliche Anſtalten, Glocken, Orgeln und Geſänge, und beſonders die Vor¬ träge unſerer Lehrer. Auf ſie war ich ganz unſäglich begierig; keine Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬ chen zu beſuchen, und nur das ſonntägige Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬ bette einige Ungeduld verurſachen. Unſern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung, auch ſeine Collegen waren mir werth, und ich wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬ tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬ nem Obſte heraus zu finden. Den öffentli¬ chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬ erbauungen, wie man ſie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur Phantaſie und feine¬ re Sinnlichkeit genährt. Ich war ſo an die¬ ſen Gang gewöhnt, ich reſpectirte ihn ſo ſehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬ U 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/313>, abgerufen am 19.05.2024.