Bey edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen sind, versetzte der Freund, können Sie nicht ganz unglücklich seyn.
Und wissen Sie, wem ich meine Gesin¬ nungen schuldig bin? fragte Aurelie; der al¬ lerschlechtesten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beyspiele, um Sinne und Neigung zu verführen.
Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬ ter bracht' ich die schönsten Jahre der Ent¬ wicklung bey einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, die Gesetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ sie sich einer jeden Neigung, sie mochte über den Gegen¬ stand gebieten oder sein Sklav seyn, wenn sie nur im wilden Genuß ihrer selbst verges¬ sen konnte.
Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unschuld uns für
Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht ganz unglücklich ſeyn.
Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬ nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬ lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen, dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und Neigung zu verführen.
Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬ ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬ wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬ ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬ ſen konnte.
Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unſchuld uns für
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0306"n="297"/><p>Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen<lb/>ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht<lb/>
ganz unglücklich ſeyn.</p><lb/><p>Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬<lb/>
nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬<lb/>
lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals<lb/>
ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen,<lb/>
dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und<lb/>
Neigung zu verführen.</p><lb/><p>Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬<lb/>
ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬<lb/>
wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum<lb/>
Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu<lb/>
verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer<lb/>
jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬<lb/>ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn<lb/>ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬<lb/>ſen konnte.</p><lb/><p>Was mußten wir Kinder mit dem reinen<lb/>
und deutlichen Blick der Unſchuld uns für<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[297/0306]
Bey edlen Geſinnungen, wie die Ihrigen
ſind, verſetzte der Freund, können Sie nicht
ganz unglücklich ſeyn.
Und wiſſen Sie, wem ich meine Geſin¬
nungen ſchuldig bin? fragte Aurelie; der al¬
lerſchlechteſten Erziehung, durch die jemals
ein Mädchen hätte verderbt werden ſollen,
dem ſchlimmſten Beyſpiele, um Sinne und
Neigung zu verführen.
Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mut¬
ter bracht’ ich die ſchönſten Jahre der Ent¬
wicklung bey einer Tante zu, die ſich zum
Geſetz machte, die Geſetze der Ehrbarkeit zu
verachten. Blindlings überließ ſie ſich einer
jeden Neigung, ſie mochte über den Gegen¬
ſtand gebieten oder ſein Sklav ſeyn, wenn
ſie nur im wilden Genuß ihrer ſelbſt vergeſ¬
ſen konnte.
Was mußten wir Kinder mit dem reinen
und deutlichen Blick der Unſchuld uns für
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/306>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.