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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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hatte. Man suchte das Übel zu heben, und
sie mußte den Arm in der Binde tragen.
Hierüber war sie aufs neue empfindlich, weil
sie den besten Theil der Pflege und War¬
tung ihres Freundes Philinen überlassen
mußte, und die angenehme Sünderin zeigte
sich nur um desto thätiger und aufmerksamer.

Eines Morgens als Wilhelm erwachte,
fand er sich mit ihr in einer sonderbaren
Nähe. Er war auf seinem weiten Lager in
der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere
Seite gerutscht. Philine lag queer über den
vordern Theil hingestreckt; sie schien auf dem
Bette sitzend und lesend eingeschlafen zu seyn.
Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen,
sie war zurück und mit dem Kopf nah' an
seine Brust gesunken, über die sich ihre blon¬
den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬
ten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte
mehr als Kunst und Vorsatz ihre Reize; eine

hatte. Man ſuchte das Übel zu heben, und
ſie mußte den Arm in der Binde tragen.
Hierüber war ſie aufs neue empfindlich, weil
ſie den beſten Theil der Pflege und War¬
tung ihres Freundes Philinen überlaſſen
mußte, und die angenehme Sünderin zeigte
ſich nur um deſto thätiger und aufmerkſamer.

Eines Morgens als Wilhelm erwachte,
fand er ſich mit ihr in einer ſonderbaren
Nähe. Er war auf ſeinem weiten Lager in
der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere
Seite gerutſcht. Philine lag queer über den
vordern Theil hingeſtreckt; ſie ſchien auf dem
Bette ſitzend und leſend eingeſchlafen zu ſeyn.
Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen,
ſie war zurück und mit dem Kopf nah’ an
ſeine Bruſt geſunken, über die ſich ihre blon¬
den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬
ten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte
mehr als Kunſt und Vorſatz ihre Reize; eine

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[255/0263] hatte. Man ſuchte das Übel zu heben, und ſie mußte den Arm in der Binde tragen. Hierüber war ſie aufs neue empfindlich, weil ſie den beſten Theil der Pflege und War¬ tung ihres Freundes Philinen überlaſſen mußte, und die angenehme Sünderin zeigte ſich nur um deſto thätiger und aufmerkſamer. Eines Morgens als Wilhelm erwachte, fand er ſich mit ihr in einer ſonderbaren Nähe. Er war auf ſeinem weiten Lager in der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere Seite gerutſcht. Philine lag queer über den vordern Theil hingeſtreckt; ſie ſchien auf dem Bette ſitzend und leſend eingeſchlafen zu ſeyn. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen, ſie war zurück und mit dem Kopf nah’ an ſeine Bruſt geſunken, über die ſich ihre blon¬ den aufgelößten Haare in Wellen ausbreite¬ ten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte mehr als Kunſt und Vorſatz ihre Reize; eine

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/263>, abgerufen am 25.11.2024.