Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

wenn ich seine Stücke lese, immer den Dich¬
ter denken, der an einem glänzenden Hofe
lebt, einen großen König vor Augen hat,
mit den Besten umgeht, und in die Geheim¬
nisse der Menschheit dringt, wie sie sich hin¬
ter kostbar gewürkten Tapeten verbergen.
Wenn ich seinen Brittanikus, seine Berenice
studire, so kommt es mir wirklich vor, ich
sey am Hofe, sey in das Große und Kleine
dieser Wohnungen der irrdischen Götter ein¬
geweyht, und ich sehe, durch die Augen eines
feinfühlenden Franzosen, Könige, die eine gan¬
ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬
senden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬
stalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die
Anekdote, daß Racine sich zu Tode gegrämt
habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht
mehr angesehen, ihn seine Unzufriedenheit
fühlen lassen, ist mir ein Schlüssel zu allen

wenn ich ſeine Stücke leſe, immer den Dich¬
ter denken, der an einem glänzenden Hofe
lebt, einen großen König vor Augen hat,
mit den Beſten umgeht, und in die Geheim¬
niſſe der Menſchheit dringt, wie ſie ſich hin¬
ter koſtbar gewürkten Tapeten verbergen.
Wenn ich ſeinen Brittanikus, ſeine Berenice
ſtudire, ſo kommt es mir wirklich vor, ich
ſey am Hofe, ſey in das Große und Kleine
dieſer Wohnungen der irrdiſchen Götter ein¬
geweyht, und ich ſehe, durch die Augen eines
feinfühlenden Franzoſen, Könige, die eine gan¬
ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬
ſenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬
ſtalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die
Anekdote, daß Racine ſich zu Tode gegrämt
habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht
mehr angeſehen, ihn ſeine Unzufriedenheit
fühlen laſſen, iſt mir ein Schlüſſel zu allen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0106" n="98"/>
wenn ich &#x017F;eine Stücke le&#x017F;e, immer den Dich¬<lb/>
ter denken, der an einem glänzenden Hofe<lb/>
lebt, einen großen König vor Augen hat,<lb/>
mit den Be&#x017F;ten umgeht, und in die Geheim¬<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e der Men&#x017F;chheit dringt, wie &#x017F;ie &#x017F;ich hin¬<lb/>
ter ko&#x017F;tbar gewürkten Tapeten verbergen.<lb/>
Wenn ich &#x017F;einen Brittanikus, &#x017F;eine Berenice<lb/>
&#x017F;tudire, &#x017F;o kommt es mir wirklich vor, ich<lb/>
&#x017F;ey am Hofe, &#x017F;ey in das Große und Kleine<lb/>
die&#x017F;er Wohnungen der irrdi&#x017F;chen Götter ein¬<lb/>
geweyht, und ich &#x017F;ehe, durch die Augen eines<lb/>
feinfühlenden Franzo&#x017F;en, Könige, die eine gan¬<lb/>
ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬<lb/>
&#x017F;enden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬<lb/>
&#x017F;talt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die<lb/>
Anekdote, daß Racine &#x017F;ich zu Tode gegrämt<lb/>
habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht<lb/>
mehr ange&#x017F;ehen, ihn &#x017F;eine Unzufriedenheit<lb/>
fühlen la&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t mir ein Schlü&#x017F;&#x017F;el zu allen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0106] wenn ich ſeine Stücke leſe, immer den Dich¬ ter denken, der an einem glänzenden Hofe lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Beſten umgeht, und in die Geheim¬ niſſe der Menſchheit dringt, wie ſie ſich hin¬ ter koſtbar gewürkten Tapeten verbergen. Wenn ich ſeinen Brittanikus, ſeine Berenice ſtudire, ſo kommt es mir wirklich vor, ich ſey am Hofe, ſey in das Große und Kleine dieſer Wohnungen der irrdiſchen Götter ein¬ geweyht, und ich ſehe, durch die Augen eines feinfühlenden Franzoſen, Könige, die eine gan¬ ze Nation anbetet, Hofleute, die von viel tau¬ ſenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Ge¬ ſtalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, daß Racine ſich zu Tode gegrämt habe, weil Ludwig der vierzehnte ihn nicht mehr angeſehen, ihn ſeine Unzufriedenheit fühlen laſſen, iſt mir ein Schlüſſel zu allen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/106
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/106>, abgerufen am 06.05.2024.