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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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sie aufhob und fest umarmte, mein Kind,
was ist dir? -- Die Zuckung dauerte fort,
die vom Herzen sich den schlotternden Glie¬
dern mittheilte; sie hing nur in seinen Ar¬
men. Er schloß sie an sein Herz, und be¬
netzte sie mit seinen Thränen. Auf einmal
schien sie wieder angespannt, wie eins, das
den höchsten körperlichen Schmerz erträgt;
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie
warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt,
um den Hals, indem in ihrem Innersten wie
ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Au¬
genblicke floß ein Strom von Thränen aus
ihren geschlossenen Augen in seinen Busen.
Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine
Zunge spricht die Gewalt dieser Thränen
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬
gen, und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach
von Thränen unaufhaltsam dahin zu schmel¬

ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind,
was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort,
die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬
dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬
men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬
netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal
ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das
den höchſten körperlichen Schmerz erträgt;
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie
warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt,
um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie
ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬
genblicke floß ein Strom von Thränen aus
ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen.
Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine
Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬
gen, und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach
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[363/0371] ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind, was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬ dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬ men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬ netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das den höchſten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt, um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬ genblicke floß ein Strom von Thränen aus ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen. Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬ gen, und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/371>, abgerufen am 09.05.2024.