Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn aufwickeln dürfe? Sie kam still; es schmerzte sie tief, daß er sie heute so kurz abfertigte.
Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im Stillen genährt, eine Treue, die sich im Verborgenen befestiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht werth gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm offenbar wird. Die lange und streng ver¬ schlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher seyn.
Sie stand vor ihm, und sah seine Un¬ ruhe. -- Herr! rief sie aus, wenn du un¬ glücklich bist, was soll Mignon werden? -- Liebes Geschöpf, sagte er, indem er ihre Hän¬ de nahm, du bist auch mit unter meinen Schmerzen. -- Ich muß fort. -- Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬ nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor
W. Meisters Lehrj. A a
Mignon trat herein und fragte, ob ſie ihn aufwickeln dürfe? Sie kam ſtill; es ſchmerzte ſie tief, daß er ſie heute ſo kurz abfertigte.
Nichts iſt rührender, als wenn eine Liebe, die ſich im Stillen genährt, eine Treue, die ſich im Verborgenen befeſtiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht werth geweſen, zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm offenbar wird. Die lange und ſtreng ver¬ ſchloſſene Knoſpe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher ſeyn.
Sie ſtand vor ihm, und ſah ſeine Un¬ ruhe. — Herr! rief ſie aus, wenn du un¬ glücklich biſt, was ſoll Mignon werden? — Liebes Geſchöpf, ſagte er, indem er ihre Hän¬ de nahm, du biſt auch mit unter meinen Schmerzen. — Ich muß fort. — Sie ſah ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬ nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor
W. Meiſters Lehrj. A a
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Mignon trat herein und fragte, ob ſie
ihn aufwickeln dürfe? Sie kam ſtill; es
ſchmerzte ſie tief, daß er ſie heute ſo kurz
abfertigte.
Nichts iſt rührender, als wenn eine Liebe,
die ſich im Stillen genährt, eine Treue, die
ſich im Verborgenen befeſtiget hat, endlich
dem, der ihrer bisher nicht werth geweſen,
zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm
offenbar wird. Die lange und ſtreng ver¬
ſchloſſene Knoſpe war reif, und Wilhelms
Herz konnte nicht empfänglicher ſeyn.
Sie ſtand vor ihm, und ſah ſeine Un¬
ruhe. — Herr! rief ſie aus, wenn du un¬
glücklich biſt, was ſoll Mignon werden? —
Liebes Geſchöpf, ſagte er, indem er ihre Hän¬
de nahm, du biſt auch mit unter meinen
Schmerzen. — Ich muß fort. — Sie ſah
ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬
nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/369>, abgerufen am 24.11.2024.
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