er sich selbst so oft gequält hatte, gegen sei¬ nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬ te, es sey nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geschick habe, deswegen, weil man es nie¬ mals in der größten Vollkommenheit aus¬ üben werde, ganz aufzugeben. Es finde sich ja so manche leere Zeit, die man dadurch ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬ bringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.
Unser Freund, der hierin ganz anderer Meynung war, fiel ihm sogleich ein, und sagte mit großer Lebhaftigkeit:
Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß ein Werk, dessen erste Vor¬ stellung die ganze Seele füllen muß, in un¬ terbrochenen, zusammen gegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinen ge¬
er ſich ſelbſt ſo oft gequält hatte, gegen ſei¬ nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬ te, es ſey nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geſchick habe, deswegen, weil man es nie¬ mals in der größten Vollkommenheit aus¬ üben werde, ganz aufzugeben. Es finde ſich ja ſo manche leere Zeit, die man dadurch ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬ bringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.
Unſer Freund, der hierin ganz anderer Meynung war, fiel ihm ſogleich ein, und ſagte mit großer Lebhaftigkeit:
Wie ſehr irrſt du, lieber Freund, wenn du glaubſt, daß ein Werk, deſſen erſte Vor¬ ſtellung die ganze Seele füllen muß, in un¬ terbrochenen, zuſammen gegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz ſich, ganz in ſeinen ge¬
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[201/0209]
er ſich ſelbſt ſo oft gequält hatte, gegen ſei¬
nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬
te, es ſey nicht vernünftig, ein Talent, zu
dem man nur einigermaßen Neigung und
Geſchick habe, deswegen, weil man es nie¬
mals in der größten Vollkommenheit aus¬
üben werde, ganz aufzugeben. Es finde ſich
ja ſo manche leere Zeit, die man dadurch
ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬
bringen könne, wodurch wir uns und andern
ein Vergnügen bereiten.
Unſer Freund, der hierin ganz anderer
Meynung war, fiel ihm ſogleich ein, und
ſagte mit großer Lebhaftigkeit:
Wie ſehr irrſt du, lieber Freund, wenn
du glaubſt, daß ein Werk, deſſen erſte Vor¬
ſtellung die ganze Seele füllen muß, in un¬
terbrochenen, zuſammen gegeizten Stunden
könne hervorgebracht werden. Nein, der
Dichter muß ganz ſich, ganz in ſeinen ge¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/209>, abgerufen am 22.11.2024.
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