Verlangen, dasjenige was er sieht, nachzu¬ ahmen; aber dieses Verlangen beweist gar nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit dem, was wir unternehmen, zu Stande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie sie jedesmal, so oft Seiltänzer in der Stadt ge¬ wesen, auf allen Planken und Balken hin und wieder gehen und balanciren, bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht. Hast du es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt? So oft sich ein Virtuose hören läßt, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬ sem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬ schluß von seinen Wünschen auf seine Kräfte bald gewahr wird!
Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen
Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬ ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit dem, was wir unternehmen, zu Stande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬ weſen, auf allen Planken und Balken hin und wieder gehen und balanciren, bis ein anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬ ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬ ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte bald gewahr wird!
Werner widerſprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0208"n="200"/>
Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬<lb/>
ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar<lb/>
nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit<lb/>
dem, was wir unternehmen, zu Stande zu<lb/>
kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie<lb/>
jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬<lb/>
weſen, auf allen Planken und Balken hin<lb/>
und wieder gehen und balanciren, bis ein<lb/>
anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen<lb/>
Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem<lb/>
Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich<lb/>
ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer<lb/>
einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu<lb/>
lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬<lb/>ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬<lb/>ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte<lb/>
bald gewahr wird!</p><lb/><p>Werner widerſprach; die Unterredung<lb/>
ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht<lb/>
ohne Bewegung die Argumente, mit denen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[200/0208]
Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬
ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar
nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit
dem, was wir unternehmen, zu Stande zu
kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie
jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬
weſen, auf allen Planken und Balken hin
und wieder gehen und balanciren, bis ein
anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen
Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem
Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich
ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer
einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu
lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬
ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬
ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte
bald gewahr wird!
Werner widerſprach; die Unterredung
ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht
ohne Bewegung die Argumente, mit denen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/208>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.