Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich hätte einige hübsche Parthien thun kön¬
nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus
Furcht vor der Ausstattung sie zu vereiteln
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen
Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben
müssen, und da wir die Hindernisse voraus¬
sahen, die unserer Verbindung im Wege stun¬
den, entschlossen wir uns mit einander in der
weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns
zu Hause nicht gewährt schien. Ich habe
nichts mitgenommen, als was mein eigen
war, wir sind nicht als Diebe und Räuber
entflohen, und mein Geliebter verdient nicht,
daß er mit Ketten und Banden belegt her¬
umgeschleppt werde. Der Fürst ist gerecht,
er wird diese Härte nicht billigen. Wenn
wir strafbar sind, so sind wir es nicht auf
diese Weise.

Der alte Amtmann kam hierüber doppelt
und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬

H 2

Ich hätte einige hübſche Parthien thun kön¬
nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus
Furcht vor der Ausſtattung ſie zu vereiteln
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen
Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben
müſſen, und da wir die Hinderniſſe voraus¬
ſahen, die unſerer Verbindung im Wege ſtun¬
den, entſchloſſen wir uns mit einander in der
weiten Welt ein Glück zu ſuchen, das uns
zu Hauſe nicht gewährt ſchien. Ich habe
nichts mitgenommen, als was mein eigen
war, wir ſind nicht als Diebe und Räuber
entflohen, und mein Geliebter verdient nicht,
daß er mit Ketten und Banden belegt her¬
umgeſchleppt werde. Der Fürſt iſt gerecht,
er wird dieſe Härte nicht billigen. Wenn
wir ſtrafbar ſind, ſo ſind wir es nicht auf
dieſe Weiſe.

Der alte Amtmann kam hierüber doppelt
und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬

H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0123" n="115"/>
Ich hätte einige hüb&#x017F;che Parthien thun kön¬<lb/>
nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus<lb/>
Furcht vor der Aus&#x017F;tattung &#x017F;ie zu vereiteln<lb/>
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen<lb/>
Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben<lb/>&#x017F;&#x017F;en, und da wir die Hinderni&#x017F;&#x017F;e voraus¬<lb/>
&#x017F;ahen, die un&#x017F;erer Verbindung im Wege &#x017F;tun¬<lb/>
den, ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wir uns mit einander in der<lb/>
weiten Welt ein Glück zu &#x017F;uchen, das uns<lb/>
zu Hau&#x017F;e nicht gewährt &#x017F;chien. Ich habe<lb/>
nichts mitgenommen, als was mein eigen<lb/>
war, wir &#x017F;ind nicht als Diebe und Räuber<lb/>
entflohen, und mein Geliebter verdient nicht,<lb/>
daß er mit Ketten und Banden belegt her¬<lb/>
umge&#x017F;chleppt werde. Der Für&#x017F;t i&#x017F;t gerecht,<lb/>
er wird die&#x017F;e Härte nicht billigen. Wenn<lb/>
wir &#x017F;trafbar &#x017F;ind, &#x017F;o &#x017F;ind wir es nicht auf<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e.</p><lb/>
            <p>Der alte Amtmann kam hierüber doppelt<lb/>
und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 2<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0123] Ich hätte einige hübſche Parthien thun kön¬ nen, wenn nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausſtattung ſie zu vereiteln gewußt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennen lernen, ich habe ihn lieben müſſen, und da wir die Hinderniſſe voraus¬ ſahen, die unſerer Verbindung im Wege ſtun¬ den, entſchloſſen wir uns mit einander in der weiten Welt ein Glück zu ſuchen, das uns zu Hauſe nicht gewährt ſchien. Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war, wir ſind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt her¬ umgeſchleppt werde. Der Fürſt iſt gerecht, er wird dieſe Härte nicht billigen. Wenn wir ſtrafbar ſind, ſo ſind wir es nicht auf dieſe Weiſe. Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreyfach in Verlegenheit. Die gnädig¬ H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/123
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/123>, abgerufen am 08.05.2024.