Zug von Theilnahme darin aufgethan hätte; aber sie sah immer so ruhig aus wie ein Bild, sie äußerte sich selten, in der Gegen¬ wart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie einige Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieser theilnehmenden Frau in sich aufgenommen, als sie sich ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu Füßen warf und unter tausend Thränen bat, sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlich¬ sten Ausdruck erklärte sie: als Magd, als Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause blei¬ ben, nur um nicht zu ihrem Vater zurück zu kehren, von dessen Härte und Tyranney man sich keinen Begriff machen könne. Ihr Bruder sey über diese Behandlung wahnsin¬ nig geworden; sie habe es mit Noth so lan¬ ge getragen, weil sie geglaubt, es sey in je¬ der Familie nicht anders, oder nicht viel bes¬ ser; da sie aber nun eine so liebevolle, heitere, zwanglose Behandlung erfahren, so werde ihr
33 *
Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte; aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬ wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie einige Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen, als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat, ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬ ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬ ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬ nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬ ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬ der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬ ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere, zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr
33 *
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0523"n="515"/>
Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte;<lb/>
aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein<lb/>
Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬<lb/>
wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie<lb/>
einige Tage mit meiner Mutter allein, und<lb/>
hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer<lb/>
theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen,<lb/>
als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu<lb/>
Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat,<lb/>ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬<lb/>ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als<lb/>
Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬<lb/>
ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck<lb/>
zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney<lb/>
man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr<lb/>
Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬<lb/>
nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬<lb/>
ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬<lb/>
der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬<lb/>ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere,<lb/>
zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr<lb/><fwplace="bottom"type="sig">33 *<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[515/0523]
Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte;
aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein
Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬
wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie
einige Tage mit meiner Mutter allein, und
hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer
theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen,
als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu
Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat,
ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬
ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als
Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬
ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck
zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney
man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr
Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬
nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬
ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬
der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬
ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere,
zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr
33 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/523>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.