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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ductives Talent. Es verließ mich seit eini¬
gen Jahren keinen Augenblick; was ich wa¬
chend am Tage gewahr wurde, bildete sich
sogar öfters Nachts in regelmäßige Träume,
und wie ich die Augen aufthat, erschien mir
entweder ein wunderliches neues Ganze, oder
der Theil eines schon Vorhandenen. Ge¬
wöhnlich schrieb ich alles zur frühsten Ta¬
geszeit; aber auch Abends, ja tief in die
Nacht, wenn Wein und Geselligkeit die Le¬
bensgeister erhöhten, konnte man von mir
fordern was man wollte; es kam nur auf
eine Gelegenheit an, die einigen Character
hatte, so war ich bereit und fertig. Wie ich
nun über diese Naturgabe nachdachte und
fand, daß sie mir ganz eigen angehöre und
durch nichts Fremdes weder begünstigt noch
gehindert werden könne, so mochte ich gern
hierauf mein ganzes Daseyn in Gedanken
gründen. Diese Vorstellung verwandelte sich
in ein Bild, die alte mythologische Figur des
Prometheus fiel mir auf, der, abgeson¬

ductives Talent. Es verließ mich ſeit eini¬
gen Jahren keinen Augenblick; was ich wa¬
chend am Tage gewahr wurde, bildete ſich
ſogar oͤfters Nachts in regelmaͤßige Traͤume,
und wie ich die Augen aufthat, erſchien mir
entweder ein wunderliches neues Ganze, oder
der Theil eines ſchon Vorhandenen. Ge¬
woͤhnlich ſchrieb ich alles zur fruͤhſten Ta¬
geszeit; aber auch Abends, ja tief in die
Nacht, wenn Wein und Geſelligkeit die Le¬
bensgeiſter erhoͤhten, konnte man von mir
fordern was man wollte; es kam nur auf
eine Gelegenheit an, die einigen Character
hatte, ſo war ich bereit und fertig. Wie ich
nun uͤber dieſe Naturgabe nachdachte und
fand, daß ſie mir ganz eigen angehoͤre und
durch nichts Fremdes weder beguͤnſtigt noch
gehindert werden koͤnne, ſo mochte ich gern
hierauf mein ganzes Daſeyn in Gedanken
gruͤnden. Dieſe Vorſtellung verwandelte ſich
in ein Bild, die alte mythologiſche Figur des
Prometheus fiel mir auf, der, abgeſon¬

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[475/0483] ductives Talent. Es verließ mich ſeit eini¬ gen Jahren keinen Augenblick; was ich wa¬ chend am Tage gewahr wurde, bildete ſich ſogar oͤfters Nachts in regelmaͤßige Traͤume, und wie ich die Augen aufthat, erſchien mir entweder ein wunderliches neues Ganze, oder der Theil eines ſchon Vorhandenen. Ge¬ woͤhnlich ſchrieb ich alles zur fruͤhſten Ta¬ geszeit; aber auch Abends, ja tief in die Nacht, wenn Wein und Geſelligkeit die Le¬ bensgeiſter erhoͤhten, konnte man von mir fordern was man wollte; es kam nur auf eine Gelegenheit an, die einigen Character hatte, ſo war ich bereit und fertig. Wie ich nun uͤber dieſe Naturgabe nachdachte und fand, daß ſie mir ganz eigen angehoͤre und durch nichts Fremdes weder beguͤnſtigt noch gehindert werden koͤnne, ſo mochte ich gern hierauf mein ganzes Daſeyn in Gedanken gruͤnden. Dieſe Vorſtellung verwandelte ſich in ein Bild, die alte mythologiſche Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgeſon¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/483>, abgerufen am 23.11.2024.