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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Das gemeine Menschenschicksal, an wel¬
chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬
nigen am schwersten aufliegen, deren Geistes¬
kräfte sich früher und breiter entwickeln. Wir
mögen unter dem Schutz von Aeltern und
Verwandten emporkommen, wir mögen uns
an Geschwister und Freunde anlehnen, durch
Bekannte unterhalten, durch geliebte Perso¬
nen beglückt werden; so ist doch immer das
Final, daß der Mensch auf sich zurückgewiesen
wird, und es scheint, es habe sogar die Gott¬
heit sich so zu dem Menschen gestellt, daß sie
dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht
immer, wenigstens nicht grade im dringenden
Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung
genug gar oft erfahren, daß in den hülfsbe¬
dürftigsten Momenten uns zugerufen wird:
"Arzt hilf dir selber!" und wie oft hatte ich
nicht schmerzlich ausseufzen müssen: "ich trete
die Kelter allein!" Indem ich mich also nach
Bestätigung der Selbständigkeit umsah, fand
ich als die sicherste Base derselben mein pro¬

Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬
chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬
nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬
kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir
moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und
Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns
an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch
Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬
nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das
Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen
wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬
heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie
deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht
immer, wenigſtens nicht grade im dringenden
Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung
genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬
duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird:
„Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich
nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete
die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach
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[474/0482] Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬ chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬ nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬ kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬ nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬ heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigſtens nicht grade im dringenden Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬ duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird: „Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach Beſtaͤtigung der Selbſtaͤndigkeit umſah, fand ich als die ſicherſte Baſe derſelben mein pro¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/482>, abgerufen am 23.11.2024.