Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Allein Lavater war ganz anders gesinnt; er
liebte seine Wirkungen in's Weite und Brei¬
le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in
der Gemeine, für deren Belehrung und Un¬
terhaltung er ein besonderes Talent besaß, wel¬
ches auf jener großen physiognomischen Gabe
ruhte. Ihm war eine richtige Unterscheidung
der Personen und Geister verliehen, so daß
er einem Jeden geschwind ansah, wie ihm
allenfalls zu Muthe seyn möchte. Fügte sich
hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine
treuherzige Frage, so wußte er aus der gro¬
ßen Fülle innerer und äußerer Erfahrung, zu
Jedermans Befriedigung, das Gehörige zu
erwiedern. Die tiefe Sanftmuth seines Blicks,
die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst
der durch sein Hochdeutsch durchtönende treu¬
herzige Schweizerdialect, und wie manches
Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu
denen er sprach, die angenehmste Sinnesbe¬
ruhigung; ja seine, bey flacher Brust, etwas
vorgebogene Körperhaltung, trug nicht wenig

Allein Lavater war ganz anders geſinnt; er
liebte ſeine Wirkungen in's Weite und Brei¬
le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in
der Gemeine, fuͤr deren Belehrung und Un¬
terhaltung er ein beſonderes Talent beſaß, wel¬
ches auf jener großen phyſiognomiſchen Gabe
ruhte. Ihm war eine richtige Unterſcheidung
der Perſonen und Geiſter verliehen, ſo daß
er einem Jeden geſchwind anſah, wie ihm
allenfalls zu Muthe ſeyn moͤchte. Fuͤgte ſich
hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine
treuherzige Frage, ſo wußte er aus der gro¬
ßen Fuͤlle innerer und aͤußerer Erfahrung, zu
Jedermans Befriedigung, das Gehoͤrige zu
erwiedern. Die tiefe Sanftmuth ſeines Blicks,
die beſtimmte Lieblichkeit ſeiner Lippen, ſelbſt
der durch ſein Hochdeutſch durchtoͤnende treu¬
herzige Schweizerdialect, und wie manches
Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu
denen er ſprach, die angenehmſte Sinnesbe¬
ruhigung; ja ſeine, bey flacher Bruſt, etwas
vorgebogene Koͤrperhaltung, trug nicht wenig

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0412" n="404"/>
Allein Lavater war ganz anders ge&#x017F;innt; er<lb/>
liebte &#x017F;eine Wirkungen in's Weite und Brei¬<lb/>
le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in<lb/>
der Gemeine, fu&#x0364;r deren Belehrung und Un¬<lb/>
terhaltung er ein be&#x017F;onderes Talent be&#x017F;aß, wel¬<lb/>
ches auf jener großen phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Gabe<lb/>
ruhte. Ihm war eine richtige Unter&#x017F;cheidung<lb/>
der Per&#x017F;onen und Gei&#x017F;ter verliehen, &#x017F;o daß<lb/>
er einem Jeden ge&#x017F;chwind an&#x017F;ah, wie ihm<lb/>
allenfalls zu Muthe &#x017F;eyn mo&#x0364;chte. Fu&#x0364;gte &#x017F;ich<lb/>
hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine<lb/>
treuherzige Frage, &#x017F;o wußte er aus der gro¬<lb/>
ßen Fu&#x0364;lle innerer und a&#x0364;ußerer Erfahrung, zu<lb/>
Jedermans Befriedigung, das Geho&#x0364;rige zu<lb/>
erwiedern. Die tiefe Sanftmuth &#x017F;eines Blicks,<lb/>
die be&#x017F;timmte Lieblichkeit &#x017F;einer Lippen, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der durch &#x017F;ein Hochdeut&#x017F;ch durchto&#x0364;nende treu¬<lb/>
herzige Schweizerdialect, und wie manches<lb/>
Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu<lb/>
denen er &#x017F;prach, die angenehm&#x017F;te Sinnesbe¬<lb/>
ruhigung; ja &#x017F;eine, bey flacher Bru&#x017F;t, etwas<lb/>
vorgebogene Ko&#x0364;rperhaltung, trug nicht wenig<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0412] Allein Lavater war ganz anders geſinnt; er liebte ſeine Wirkungen in's Weite und Brei¬ le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in der Gemeine, fuͤr deren Belehrung und Un¬ terhaltung er ein beſonderes Talent beſaß, wel¬ ches auf jener großen phyſiognomiſchen Gabe ruhte. Ihm war eine richtige Unterſcheidung der Perſonen und Geiſter verliehen, ſo daß er einem Jeden geſchwind anſah, wie ihm allenfalls zu Muthe ſeyn moͤchte. Fuͤgte ſich hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine treuherzige Frage, ſo wußte er aus der gro¬ ßen Fuͤlle innerer und aͤußerer Erfahrung, zu Jedermans Befriedigung, das Gehoͤrige zu erwiedern. Die tiefe Sanftmuth ſeines Blicks, die beſtimmte Lieblichkeit ſeiner Lippen, ſelbſt der durch ſein Hochdeutſch durchtoͤnende treu¬ herzige Schweizerdialect, und wie manches Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu denen er ſprach, die angenehmſte Sinnesbe¬ ruhigung; ja ſeine, bey flacher Bruſt, etwas vorgebogene Koͤrperhaltung, trug nicht wenig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/412
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/412>, abgerufen am 13.05.2024.