Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Was aber den fühlenden Jüngling am
meisten ängstigt, ist die unaufhaltsame Wie¬
derkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen
wir einsehen, daß wir, indem wir unsere
Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit
anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ih¬
rer Wurzel, und diese verzweigen sich insge¬
heim eben so stark und so mannigfaltig als jene
im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere
Tugenden meist mit Willen und Bewußtseyn
ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt
überrascht werden, so machen uns jene selten
einige Freude, diese hingegen beständig Noth
und Qual. Hier liegt der schwerste Punct
der Selbsterkenntniß, der sie beynah unmöglich
macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend
jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬
genstände leicht zu paralysirende Einbildungs¬
kraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des
Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬
ben, sich aus einer solchen Klemme zu befreyen,
nicht unnatürlich finden.

Was aber den fuͤhlenden Juͤngling am
meiſten aͤngſtigt, iſt die unaufhaltſame Wie¬
derkehr unſerer Fehler: denn wie ſpaͤt lernen
wir einſehen, daß wir, indem wir unſere
Tugenden ausbilden, unſere Fehler zugleich mit
anbauen. Jene ruhen auf dieſen wie auf ih¬
rer Wurzel, und dieſe verzweigen ſich insge¬
heim eben ſo ſtark und ſo mannigfaltig als jene
im offenbaren Lichte. Weil wir nun unſere
Tugenden meiſt mit Willen und Bewußtſeyn
ausuͤben, von unſeren Fehlern aber unbewußt
uͤberraſcht werden, ſo machen uns jene ſelten
einige Freude, dieſe hingegen beſtaͤndig Noth
und Qual. Hier liegt der ſchwerſte Punct
der Selbſterkenntniß, der ſie beynah unmoͤglich
macht. Denke man ſich nun hiezu ein ſiedend
jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬
genſtaͤnde leicht zu paralyſirende Einbildungs¬
kraft, hiezu die ſchwankenden Bewegungen des
Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬
ben, ſich aus einer ſolchen Klemme zu befreyen,
nicht unnatuͤrlich finden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0332" n="324"/>
        <p>Was aber den fu&#x0364;hlenden Ju&#x0364;ngling am<lb/>
mei&#x017F;ten a&#x0364;ng&#x017F;tigt, i&#x017F;t die unaufhalt&#x017F;ame Wie¬<lb/>
derkehr un&#x017F;erer Fehler: denn wie &#x017F;pa&#x0364;t lernen<lb/>
wir ein&#x017F;ehen, daß wir, indem wir un&#x017F;ere<lb/>
Tugenden ausbilden, un&#x017F;ere Fehler zugleich mit<lb/>
anbauen. Jene ruhen auf die&#x017F;en wie auf ih¬<lb/>
rer Wurzel, und die&#x017F;e verzweigen &#x017F;ich insge¬<lb/>
heim eben &#x017F;o &#x017F;tark und &#x017F;o mannigfaltig als jene<lb/>
im offenbaren Lichte. Weil wir nun un&#x017F;ere<lb/>
Tugenden mei&#x017F;t mit Willen und Bewußt&#x017F;eyn<lb/>
ausu&#x0364;ben, von un&#x017F;eren Fehlern aber unbewußt<lb/>
u&#x0364;berra&#x017F;cht werden, &#x017F;o machen uns jene &#x017F;elten<lb/>
einige Freude, die&#x017F;e hingegen be&#x017F;ta&#x0364;ndig Noth<lb/>
und Qual. Hier liegt der &#x017F;chwer&#x017F;te Punct<lb/>
der Selb&#x017F;terkenntniß, der &#x017F;ie beynah unmo&#x0364;glich<lb/>
macht. Denke man &#x017F;ich nun hiezu ein &#x017F;iedend<lb/>
jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬<lb/>
gen&#x017F;ta&#x0364;nde leicht zu paraly&#x017F;irende Einbildungs¬<lb/>
kraft, hiezu die &#x017F;chwankenden Bewegungen des<lb/>
Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬<lb/>
ben, &#x017F;ich aus einer &#x017F;olchen Klemme zu befreyen,<lb/>
nicht unnatu&#x0364;rlich finden.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0332] Was aber den fuͤhlenden Juͤngling am meiſten aͤngſtigt, iſt die unaufhaltſame Wie¬ derkehr unſerer Fehler: denn wie ſpaͤt lernen wir einſehen, daß wir, indem wir unſere Tugenden ausbilden, unſere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf dieſen wie auf ih¬ rer Wurzel, und dieſe verzweigen ſich insge¬ heim eben ſo ſtark und ſo mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unſere Tugenden meiſt mit Willen und Bewußtſeyn ausuͤben, von unſeren Fehlern aber unbewußt uͤberraſcht werden, ſo machen uns jene ſelten einige Freude, dieſe hingegen beſtaͤndig Noth und Qual. Hier liegt der ſchwerſte Punct der Selbſterkenntniß, der ſie beynah unmoͤglich macht. Denke man ſich nun hiezu ein ſiedend jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬ genſtaͤnde leicht zu paralyſirende Einbildungs¬ kraft, hiezu die ſchwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬ ben, ſich aus einer ſolchen Klemme zu befreyen, nicht unnatuͤrlich finden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/332
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/332>, abgerufen am 17.05.2024.