Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles
Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinn¬
lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬
nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬
renden Empfindungen spaltet, bringt auch hier
eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬
tes stiften kann.

Ferner wird ein junger Mann, wo nicht
gerade an sich selbst, doch an andern bald ge¬
wahr, daß moralische Epochen eben so gut
wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade
der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die
Förderung der Thätigen, die Neigung der
Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬
delt auf und nieder, ohne daß wir es festhal¬
ten können, so wenig als Sonne, Mond und
Sterne; und doch sind diese Dinge nicht blo¬
ße Naturereignisse: sie entgehen uns durch
eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder
Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ih¬
rer niemals sicher.

21 *

iſt zerſtoͤrt, ſie erſcheint vergaͤnglich wie alles
Wiederkehrende. Die Abſonderung des Sinn¬
lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬
nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬
renden Empfindungen ſpaltet, bringt auch hier
eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬
tes ſtiften kann.

Ferner wird ein junger Mann, wo nicht
gerade an ſich ſelbſt, doch an andern bald ge¬
wahr, daß moraliſche Epochen eben ſo gut
wie die Jahreszeiten wechſeln. Die Gnade
der Großen, die Gunſt der Gewaltigen, die
Foͤrderung der Thaͤtigen, die Neigung der
Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬
delt auf und nieder, ohne daß wir es feſthal¬
ten koͤnnen, ſo wenig als Sonne, Mond und
Sterne; und doch ſind dieſe Dinge nicht blo¬
ße Naturereigniſſe: ſie entgehen uns durch
eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder
Geſchick, aber ſie wechſeln, und wir ſind ih¬
rer niemals ſicher.

21 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0331" n="323"/>
i&#x017F;t zer&#x017F;to&#x0364;rt, &#x017F;ie er&#x017F;cheint verga&#x0364;nglich wie alles<lb/>
Wiederkehrende. Die Ab&#x017F;onderung des Sinn¬<lb/>
lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬<lb/>
nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬<lb/>
renden Empfindungen &#x017F;paltet, bringt auch hier<lb/>
eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬<lb/>
tes &#x017F;tiften kann.</p><lb/>
        <p>Ferner wird ein junger Mann, wo nicht<lb/>
gerade an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, doch an andern bald ge¬<lb/>
wahr, daß morali&#x017F;che Epochen eben &#x017F;o gut<lb/>
wie die Jahreszeiten wech&#x017F;eln. Die Gnade<lb/>
der Großen, die Gun&#x017F;t der Gewaltigen, die<lb/>
Fo&#x0364;rderung der Tha&#x0364;tigen, die Neigung der<lb/>
Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬<lb/>
delt auf und nieder, ohne daß wir es fe&#x017F;thal¬<lb/>
ten ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wenig als Sonne, Mond und<lb/>
Sterne; und doch &#x017F;ind die&#x017F;e Dinge nicht blo¬<lb/>
ße Naturereigni&#x017F;&#x017F;e: &#x017F;ie entgehen uns durch<lb/>
eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder<lb/>
Ge&#x017F;chick, aber &#x017F;ie wech&#x017F;eln, und wir &#x017F;ind ih¬<lb/>
rer niemals &#x017F;icher.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">21 *<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0331] iſt zerſtoͤrt, ſie erſcheint vergaͤnglich wie alles Wiederkehrende. Die Abſonderung des Sinn¬ lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬ nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬ renden Empfindungen ſpaltet, bringt auch hier eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬ tes ſtiften kann. Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an ſich ſelbſt, doch an andern bald ge¬ wahr, daß moraliſche Epochen eben ſo gut wie die Jahreszeiten wechſeln. Die Gnade der Großen, die Gunſt der Gewaltigen, die Foͤrderung der Thaͤtigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬ delt auf und nieder, ohne daß wir es feſthal¬ ten koͤnnen, ſo wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch ſind dieſe Dinge nicht blo¬ ße Naturereigniſſe: ſie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geſchick, aber ſie wechſeln, und wir ſind ih¬ rer niemals ſicher. 21 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/331
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/331>, abgerufen am 19.05.2024.