Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

wonnen werden, und so ist die Einleitung zu
allen Intriguen und Bestechungen gegeben.

Kaiser Joseph, nach eignem Antriebe und
in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerst sei¬
ne Aufmerksamkeit auf die Waffen und die
Justiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬
ge; herkömmliche Ungerechtigkeiten, eingeführ¬
te Misbräuche waren ihm nicht unbekannt ge¬
blieben. Auch hier sollte aufgeregt, gerüttelt
und gethan seyn. Ohne zu fragen, ob es
sein kaiserlicher Vortheil sey, ohne die Mög¬
lichkeit eines glücklichen Erfolgs vorauszusehn,
brachte er die Visitation in Vorschlag, und
übereilte ihre Eröffnung. Seit hundert und
sechs und sechzig Jahren hatte man keine or¬
dentliche Visitation zu Stande gebracht; ein
ungeheurer Wust von Acten lag aufgeschwol¬
len und wuchs jährlich, da die siebzehn As¬
sessoren nicht einmal im Stande waren, das
Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Pro¬
cesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten

wonnen werden, und ſo iſt die Einleitung zu
allen Intriguen und Beſtechungen gegeben.

Kaiſer Joſeph, nach eignem Antriebe und
in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerſt ſei¬
ne Aufmerkſamkeit auf die Waffen und die
Juſtiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬
ge; herkoͤmmliche Ungerechtigkeiten, eingefuͤhr¬
te Misbraͤuche waren ihm nicht unbekannt ge¬
blieben. Auch hier ſollte aufgeregt, geruͤttelt
und gethan ſeyn. Ohne zu fragen, ob es
ſein kaiſerlicher Vortheil ſey, ohne die Moͤg¬
lichkeit eines gluͤcklichen Erfolgs vorauszuſehn,
brachte er die Viſitation in Vorſchlag, und
uͤbereilte ihre Eroͤffnung. Seit hundert und
ſechs und ſechzig Jahren hatte man keine or¬
dentliche Viſitation zu Stande gebracht; ein
ungeheurer Wuſt von Acten lag aufgeſchwol¬
len und wuchs jaͤhrlich, da die ſiebzehn Aſ¬
ſeſſoren nicht einmal im Stande waren, das
Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtauſend Pro¬
ceſſe hatten ſich aufgehaͤuft, jaͤhrlich konnten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0210" n="202"/>
wonnen werden, und &#x017F;o i&#x017F;t die Einleitung zu<lb/>
allen Intriguen und Be&#x017F;techungen gegeben.</p><lb/>
        <p>Kai&#x017F;er Jo&#x017F;eph, nach eignem Antriebe und<lb/>
in Nachahmung Friedrichs, richtete zuer&#x017F;t &#x017F;ei¬<lb/>
ne Aufmerk&#x017F;amkeit auf die Waffen und die<lb/>
Ju&#x017F;tiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬<lb/>
ge; herko&#x0364;mmliche Ungerechtigkeiten, eingefu&#x0364;hr¬<lb/>
te Misbra&#x0364;uche waren ihm nicht unbekannt ge¬<lb/>
blieben. Auch hier &#x017F;ollte aufgeregt, geru&#x0364;ttelt<lb/>
und gethan &#x017F;eyn. Ohne zu fragen, ob es<lb/>
&#x017F;ein kai&#x017F;erlicher Vortheil &#x017F;ey, ohne die Mo&#x0364;<lb/>
lichkeit eines glu&#x0364;cklichen Erfolgs vorauszu&#x017F;ehn,<lb/>
brachte er die Vi&#x017F;itation in Vor&#x017F;chlag, und<lb/>
u&#x0364;bereilte ihre Ero&#x0364;ffnung. Seit hundert und<lb/>
&#x017F;echs und &#x017F;echzig Jahren hatte man keine or¬<lb/>
dentliche Vi&#x017F;itation zu Stande gebracht; ein<lb/>
ungeheurer Wu&#x017F;t von Acten lag aufge&#x017F;chwol¬<lb/>
len und wuchs ja&#x0364;hrlich, da die &#x017F;iebzehn A&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;e&#x017F;&#x017F;oren nicht einmal im Stande waren, das<lb/>
Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtau&#x017F;end Pro¬<lb/>
ce&#x017F;&#x017F;e hatten &#x017F;ich aufgeha&#x0364;uft, ja&#x0364;hrlich konnten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0210] wonnen werden, und ſo iſt die Einleitung zu allen Intriguen und Beſtechungen gegeben. Kaiſer Joſeph, nach eignem Antriebe und in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerſt ſei¬ ne Aufmerkſamkeit auf die Waffen und die Juſtiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬ ge; herkoͤmmliche Ungerechtigkeiten, eingefuͤhr¬ te Misbraͤuche waren ihm nicht unbekannt ge¬ blieben. Auch hier ſollte aufgeregt, geruͤttelt und gethan ſeyn. Ohne zu fragen, ob es ſein kaiſerlicher Vortheil ſey, ohne die Moͤg¬ lichkeit eines gluͤcklichen Erfolgs vorauszuſehn, brachte er die Viſitation in Vorſchlag, und uͤbereilte ihre Eroͤffnung. Seit hundert und ſechs und ſechzig Jahren hatte man keine or¬ dentliche Viſitation zu Stande gebracht; ein ungeheurer Wuſt von Acten lag aufgeſchwol¬ len und wuchs jaͤhrlich, da die ſiebzehn Aſ¬ ſeſſoren nicht einmal im Stande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtauſend Pro¬ ceſſe hatten ſich aufgehaͤuft, jaͤhrlich konnten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/210
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/210>, abgerufen am 02.05.2024.