Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

hen nicht mit ihm wandeln, der Gestalten,
die ihm vorschweben, sich nicht bemächtigen,
aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur
nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬
ten Stelle herausfinden; so wird es um uns
nur trüber und dunkler jemehr wir ihn stu¬
diren, und diese Finsterniß wird mit den Jah¬
ren immer zunehmen, weil seine Anspielungen
auf bestimmte, im Leben und in der Litera¬
tur augenblicklich herrschende Eigenheiten vor¬
züglich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬
lung befinden sich einige seiner gedruckten Bo¬
gen, wo er an dem Rande eigenhändig die
Stellen citirt hat, auf die sich seine Andeu¬
tungen beziehn. Schlägt man sie auf, so
giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬
licht, das uns höchst angenehm erscheint, nur
muß man durchaus auf das Verzicht thun,
was man gewöhnlich verstehen nennt. Sol¬
che Blätter verdienen auch deswegen Sibylli¬
nisch genannt zu werden, weil man sie nicht
an und für sich betrachten kann, sondern auf

hen nicht mit ihm wandeln, der Geſtalten,
die ihm vorſchweben, ſich nicht bemaͤchtigen,
aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur
nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬
ten Stelle herausfinden; ſo wird es um uns
nur truͤber und dunkler jemehr wir ihn ſtu¬
diren, und dieſe Finſterniß wird mit den Jah¬
ren immer zunehmen, weil ſeine Anſpielungen
auf beſtimmte, im Leben und in der Litera¬
tur augenblicklich herrſchende Eigenheiten vor¬
zuͤglich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬
lung befinden ſich einige ſeiner gedruckten Bo¬
gen, wo er an dem Rande eigenhaͤndig die
Stellen citirt hat, auf die ſich ſeine Andeu¬
tungen beziehn. Schlaͤgt man ſie auf, ſo
giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬
licht, das uns hoͤchſt angenehm erſcheint, nur
muß man durchaus auf das Verzicht thun,
was man gewoͤhnlich verſtehen nennt. Sol¬
che Blaͤtter verdienen auch deswegen Sibylli¬
niſch genannt zu werden, weil man ſie nicht
an und fuͤr ſich betrachten kann, ſondern auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0174" n="166"/>
hen nicht mit ihm wandeln, der Ge&#x017F;talten,<lb/>
die ihm vor&#x017F;chweben, &#x017F;ich nicht bema&#x0364;chtigen,<lb/>
aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur<lb/>
nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬<lb/>
ten Stelle herausfinden; &#x017F;o wird es um uns<lb/>
nur tru&#x0364;ber und dunkler jemehr wir ihn &#x017F;tu¬<lb/>
diren, und die&#x017F;e Fin&#x017F;terniß wird mit den Jah¬<lb/>
ren immer zunehmen, weil &#x017F;eine An&#x017F;pielungen<lb/>
auf be&#x017F;timmte, im Leben und in der Litera¬<lb/>
tur augenblicklich herr&#x017F;chende Eigenheiten vor¬<lb/>
zu&#x0364;glich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬<lb/>
lung befinden &#x017F;ich einige &#x017F;einer gedruckten Bo¬<lb/>
gen, wo er an dem Rande eigenha&#x0364;ndig die<lb/>
Stellen citirt hat, auf die &#x017F;ich &#x017F;eine Andeu¬<lb/>
tungen beziehn. Schla&#x0364;gt man &#x017F;ie auf, &#x017F;o<lb/>
giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬<lb/>
licht, das uns ho&#x0364;ch&#x017F;t angenehm er&#x017F;cheint, nur<lb/>
muß man durchaus auf das Verzicht thun,<lb/>
was man gewo&#x0364;hnlich ver&#x017F;tehen nennt. Sol¬<lb/>
che Bla&#x0364;tter verdienen auch deswegen Sibylli¬<lb/>
ni&#x017F;ch genannt zu werden, weil man &#x017F;ie nicht<lb/>
an und fu&#x0364;r &#x017F;ich betrachten kann, &#x017F;ondern auf<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0174] hen nicht mit ihm wandeln, der Geſtalten, die ihm vorſchweben, ſich nicht bemaͤchtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬ ten Stelle herausfinden; ſo wird es um uns nur truͤber und dunkler jemehr wir ihn ſtu¬ diren, und dieſe Finſterniß wird mit den Jah¬ ren immer zunehmen, weil ſeine Anſpielungen auf beſtimmte, im Leben und in der Litera¬ tur augenblicklich herrſchende Eigenheiten vor¬ zuͤglich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬ lung befinden ſich einige ſeiner gedruckten Bo¬ gen, wo er an dem Rande eigenhaͤndig die Stellen citirt hat, auf die ſich ſeine Andeu¬ tungen beziehn. Schlaͤgt man ſie auf, ſo giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬ licht, das uns hoͤchſt angenehm erſcheint, nur muß man durchaus auf das Verzicht thun, was man gewoͤhnlich verſtehen nennt. Sol¬ che Blaͤtter verdienen auch deswegen Sibylli¬ niſch genannt zu werden, weil man ſie nicht an und fuͤr ſich betrachten kann, ſondern auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/174
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/174>, abgerufen am 25.11.2024.