Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu
ihren Orakeln seine Zuflucht nähme. Jedes¬
mal wenn man sie aufschlägt, glaubt man et¬
was Neues zu finden, weil der einer jeden
Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬
fache Weise berührt und aufregt.

Persönlich habe ich ihn nie gesehn, auch
kein unmittelbares Verhältniß zu ihm durch
Briefe gehabt. Mir scheint er in Lebens-
und Freundschaftsverhältnissen höchst klar ge¬
wesen zu seyn und die Bezüge der Menschen
unter einander und auf ihn sehr richtig ge¬
fühlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm
sah, waren vortrefflich und viel deutlicher als
seine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit
und Umstände so wie auf persönliche Ver¬
hältnisse klarer hervortrat. Soviel glaubte
ich jedoch durchaus zu ersehn, daß er die Ue¬
berlegenheit seiner Geistesgaben aufs naivste
fühlend, sich jederzeit für etwas weiser und
klüger gehalten als seine Correspondenten, de¬

Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu
ihren Orakeln ſeine Zuflucht naͤhme. Jedes¬
mal wenn man ſie aufſchlaͤgt, glaubt man et¬
was Neues zu finden, weil der einer jeden
Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬
fache Weiſe beruͤhrt und aufregt.

Perſoͤnlich habe ich ihn nie geſehn, auch
kein unmittelbares Verhaͤltniß zu ihm durch
Briefe gehabt. Mir ſcheint er in Lebens-
und Freundſchaftsverhaͤltniſſen hoͤchſt klar ge¬
weſen zu ſeyn und die Bezuͤge der Menſchen
unter einander und auf ihn ſehr richtig ge¬
fuͤhlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm
ſah, waren vortrefflich und viel deutlicher als
ſeine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit
und Umſtaͤnde ſo wie auf perſoͤnliche Ver¬
haͤltniſſe klarer hervortrat. Soviel glaubte
ich jedoch durchaus zu erſehn, daß er die Ue¬
berlegenheit ſeiner Geiſtesgaben aufs naivſte
fuͤhlend, ſich jederzeit fuͤr etwas weiſer und
kluͤger gehalten als ſeine Correſpondenten, de¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0175" n="167"/>
Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu<lb/>
ihren Orakeln &#x017F;eine Zuflucht na&#x0364;hme. Jedes¬<lb/>
mal wenn man &#x017F;ie auf&#x017F;chla&#x0364;gt, glaubt man et¬<lb/>
was Neues zu finden, weil der einer jeden<lb/>
Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬<lb/>
fache Wei&#x017F;e beru&#x0364;hrt und aufregt.</p><lb/>
        <p>Per&#x017F;o&#x0364;nlich habe ich ihn nie ge&#x017F;ehn, auch<lb/>
kein unmittelbares Verha&#x0364;ltniß zu ihm durch<lb/>
Briefe gehabt. Mir &#x017F;cheint er in Lebens-<lb/>
und Freund&#x017F;chaftsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en ho&#x0364;ch&#x017F;t klar ge¬<lb/>
we&#x017F;en zu &#x017F;eyn und die Bezu&#x0364;ge der Men&#x017F;chen<lb/>
unter einander und auf ihn &#x017F;ehr richtig ge¬<lb/>
fu&#x0364;hlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm<lb/>
&#x017F;ah, waren vortrefflich und viel deutlicher als<lb/>
&#x017F;eine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit<lb/>
und Um&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;o wie auf per&#x017F;o&#x0364;nliche Ver¬<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e klarer hervortrat. Soviel glaubte<lb/>
ich jedoch durchaus zu er&#x017F;ehn, daß er die Ue¬<lb/>
berlegenheit &#x017F;einer Gei&#x017F;tesgaben aufs naiv&#x017F;te<lb/>
fu&#x0364;hlend, &#x017F;ich jederzeit fu&#x0364;r etwas wei&#x017F;er und<lb/>
klu&#x0364;ger gehalten als &#x017F;eine Corre&#x017F;pondenten, de¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0175] Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu ihren Orakeln ſeine Zuflucht naͤhme. Jedes¬ mal wenn man ſie aufſchlaͤgt, glaubt man et¬ was Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬ fache Weiſe beruͤhrt und aufregt. Perſoͤnlich habe ich ihn nie geſehn, auch kein unmittelbares Verhaͤltniß zu ihm durch Briefe gehabt. Mir ſcheint er in Lebens- und Freundſchaftsverhaͤltniſſen hoͤchſt klar ge¬ weſen zu ſeyn und die Bezuͤge der Menſchen unter einander und auf ihn ſehr richtig ge¬ fuͤhlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm ſah, waren vortrefflich und viel deutlicher als ſeine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit und Umſtaͤnde ſo wie auf perſoͤnliche Ver¬ haͤltniſſe klarer hervortrat. Soviel glaubte ich jedoch durchaus zu erſehn, daß er die Ue¬ berlegenheit ſeiner Geiſtesgaben aufs naivſte fuͤhlend, ſich jederzeit fuͤr etwas weiſer und kluͤger gehalten als ſeine Correſpondenten, de¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/175
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/175>, abgerufen am 02.05.2024.