war, und suchte mir einen eignen Gesichts¬ punct; allein ich ward bald da bald dorthin gezogen. Der sterbende Fechter hielt mich lange fest, besonders aber hatte ich der Grup¬ pe von Castor und Pollux, diesen kostbaren, obgleich problematischen Resten, die seligsten Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht, wie unmöglich es sey, sich von einem genie¬ ßenden Anschaun sogleich Rechenschaft zu ge¬ ben. Ich zwang mich zu reflectiren, und so wenig es mir gelingen wollte, zu irgend ei¬ ner Art von Klarheit zu gelangen, so fühlte ich doch, daß jedes Einzelne dieser großen versammelten Masse faßlich, ein jeder Gegen¬ stand natürlich und in sich selbst bedeutend sey.
Auf Laokoon jedoch war meine größte Auf¬ merksamkeit gerichtet, und ich entschied mir die berühmte Frage, warum er nicht schreye, dadurch, daß ich mir aussprach, er könne nicht schreyen. Alle Handlungen und Bewe¬ gungen der drey Figuren gingen mir aus der
war, und ſuchte mir einen eignen Geſichts¬ punct; allein ich ward bald da bald dorthin gezogen. Der ſterbende Fechter hielt mich lange feſt, beſonders aber hatte ich der Grup¬ pe von Caſtor und Pollux, dieſen koſtbaren, obgleich problematiſchen Reſten, die ſeligſten Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht, wie unmoͤglich es ſey, ſich von einem genie¬ ßenden Anſchaun ſogleich Rechenſchaft zu ge¬ ben. Ich zwang mich zu reflectiren, und ſo wenig es mir gelingen wollte, zu irgend ei¬ ner Art von Klarheit zu gelangen, ſo fuͤhlte ich doch, daß jedes Einzelne dieſer großen verſammelten Maſſe faßlich, ein jeder Gegen¬ ſtand natuͤrlich und in ſich ſelbſt bedeutend ſey.
Auf Laokoon jedoch war meine groͤßte Auf¬ merkſamkeit gerichtet, und ich entſchied mir die beruͤhmte Frage, warum er nicht ſchreye, dadurch, daß ich mir ausſprach, er koͤnne nicht ſchreyen. Alle Handlungen und Bewe¬ gungen der drey Figuren gingen mir aus der
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war, und ſuchte mir einen eignen Geſichts¬
punct; allein ich ward bald da bald dorthin
gezogen. Der ſterbende Fechter hielt mich
lange feſt, beſonders aber hatte ich der Grup¬
pe von Caſtor und Pollux, dieſen koſtbaren,
obgleich problematiſchen Reſten, die ſeligſten
Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht,
wie unmoͤglich es ſey, ſich von einem genie¬
ßenden Anſchaun ſogleich Rechenſchaft zu ge¬
ben. Ich zwang mich zu reflectiren, und ſo
wenig es mir gelingen wollte, zu irgend ei¬
ner Art von Klarheit zu gelangen, ſo fuͤhlte
ich doch, daß jedes Einzelne dieſer großen
verſammelten Maſſe faßlich, ein jeder Gegen¬
ſtand natuͤrlich und in ſich ſelbſt bedeutend ſey.
Auf Laokoon jedoch war meine groͤßte Auf¬
merkſamkeit gerichtet, und ich entſchied mir
die beruͤhmte Frage, warum er nicht ſchreye,
dadurch, daß ich mir ausſprach, er koͤnne
nicht ſchreyen. Alle Handlungen und Bewe¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/139>, abgerufen am 23.11.2024.
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