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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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gefunden zu haben. Man war besorgt um
sie und schalt auf diese oder jene böse Ge¬
wohnheit, nur der Vater sagte ganz ruhig:
laßt sie immer gehn, sie kommt schon wieder!
In diesem Augenblick trat sie wirklich in die
Thüre; und da ging fürwahr an diesem länd¬
lichen Himmel ein allerliebster Stern auf.
Beyde Töchter trugen sich noch deutsch, wie
man es zu nennen pflegte, und diese fast ver¬
drängte Nationaltracht kleidete Friedricken be¬
sonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röck¬
chen mit einer Falbel, nicht länger als daß
die nettsten Füßchen bis an die Knöchel sicht¬
bar blieben; ein knappes weißes Mieder und
eine schwarze Taffetschürze -- so stand sie
auf der Grenze zwischen Bäuerinn und Städ¬
terinn. Schlank und leicht, als wenn sie
nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und
beynahe schien für die gewaltigen blonden
Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu
zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie

gefunden zu haben. Man war beſorgt um
ſie und ſchalt auf dieſe oder jene boͤſe Ge¬
wohnheit, nur der Vater ſagte ganz ruhig:
laßt ſie immer gehn, ſie kommt ſchon wieder!
In dieſem Augenblick trat ſie wirklich in die
Thuͤre; und da ging fuͤrwahr an dieſem laͤnd¬
lichen Himmel ein allerliebſter Stern auf.
Beyde Toͤchter trugen ſich noch deutſch, wie
man es zu nennen pflegte, und dieſe faſt ver¬
draͤngte Nationaltracht kleidete Friedricken be¬
ſonders gut. Ein kurzes weißes rundes Roͤck¬
chen mit einer Falbel, nicht laͤnger als daß
die nettſten Fuͤßchen bis an die Knoͤchel ſicht¬
bar blieben; ein knappes weißes Mieder und
eine ſchwarze Taffetſchuͤrze — ſo ſtand ſie
auf der Grenze zwiſchen Baͤuerinn und Staͤd¬
terinn. Schlank und leicht, als wenn ſie
nichts an ſich zu tragen haͤtte, ſchritt ſie, und
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[535/0543] gefunden zu haben. Man war beſorgt um ſie und ſchalt auf dieſe oder jene boͤſe Ge¬ wohnheit, nur der Vater ſagte ganz ruhig: laßt ſie immer gehn, ſie kommt ſchon wieder! In dieſem Augenblick trat ſie wirklich in die Thuͤre; und da ging fuͤrwahr an dieſem laͤnd¬ lichen Himmel ein allerliebſter Stern auf. Beyde Toͤchter trugen ſich noch deutſch, wie man es zu nennen pflegte, und dieſe faſt ver¬ draͤngte Nationaltracht kleidete Friedricken be¬ ſonders gut. Ein kurzes weißes rundes Roͤck¬ chen mit einer Falbel, nicht laͤnger als daß die nettſten Fuͤßchen bis an die Knoͤchel ſicht¬ bar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine ſchwarze Taffetſchuͤrze — ſo ſtand ſie auf der Grenze zwiſchen Baͤuerinn und Staͤd¬ terinn. Schlank und leicht, als wenn ſie nichts an ſich zu tragen haͤtte, ſchritt ſie, und beynahe ſchien fuͤr die gewaltigen blonden Zoͤpfe des niedlichen Koͤpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte ſie

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/543>, abgerufen am 11.06.2024.