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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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was herben Sohn, Moses, will ich zu nen¬
nen nicht unterlassen.

Wenn Herder bey seiner Vorlesung eines
Fehlers beschuldigt werden konnte, so war es
der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zu¬
hörer einen gewissen Theil des Verlaufs ver¬
nommen und gefaßt hätte, um richtig dabey
empfinden und gehörig denken zu können: vor¬
eilig wollte er sogleich Wirkungen sehen, und
doch war er auch mit diesen unzufrieden,
wenn sie hervortraten. Er tadelte das Ueber¬
maß von Gefühl, das bey mir von Schritt
zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als
Mensch, als junger Mensch; mir war alles
lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß
Gehalt und Form beachtete, sah freylich wohl,
daß ich vom Stoff überwältigt ward, und
das wollte er nicht gelten lassen. Peglows
Reflexionen zunächst, die nicht von den fein¬
sten waren, wurden noch übler aufgenommen;

was herben Sohn, Moſes, will ich zu nen¬
nen nicht unterlaſſen.

Wenn Herder bey ſeiner Vorleſung eines
Fehlers beſchuldigt werden konnte, ſo war es
der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zu¬
hoͤrer einen gewiſſen Theil des Verlaufs ver¬
nommen und gefaßt haͤtte, um richtig dabey
empfinden und gehoͤrig denken zu koͤnnen: vor¬
eilig wollte er ſogleich Wirkungen ſehen, und
doch war er auch mit dieſen unzufrieden,
wenn ſie hervortraten. Er tadelte das Ueber¬
maß von Gefuͤhl, das bey mir von Schritt
zu Schritt mehr uͤberfloß. Ich empfand als
Menſch, als junger Menſch; mir war alles
lebendig, wahr, gegenwaͤrtig. Er, der bloß
Gehalt und Form beachtete, ſah freylich wohl,
daß ich vom Stoff uͤberwaͤltigt ward, und
das wollte er nicht gelten laſſen. Peglows
Reflexionen zunaͤchſt, die nicht von den fein¬
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[524/0532] was herben Sohn, Moſes, will ich zu nen¬ nen nicht unterlaſſen. Wenn Herder bey ſeiner Vorleſung eines Fehlers beſchuldigt werden konnte, ſo war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zu¬ hoͤrer einen gewiſſen Theil des Verlaufs ver¬ nommen und gefaßt haͤtte, um richtig dabey empfinden und gehoͤrig denken zu koͤnnen: vor¬ eilig wollte er ſogleich Wirkungen ſehen, und doch war er auch mit dieſen unzufrieden, wenn ſie hervortraten. Er tadelte das Ueber¬ maß von Gefuͤhl, das bey mir von Schritt zu Schritt mehr uͤberfloß. Ich empfand als Menſch, als junger Menſch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwaͤrtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, ſah freylich wohl, daß ich vom Stoff uͤberwaͤltigt ward, und das wollte er nicht gelten laſſen. Peglows Reflexionen zunaͤchſt, die nicht von den fein¬ ſten waren, wurden noch uͤbler aufgenommen;

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/532>, abgerufen am 11.06.2024.