Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne be¬ kannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebräische Dicht¬ kunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Ueberlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie, ga¬ ben das Zeugniß, daß die Dichtkunst über¬ haupt eine Welt- und Völkergabe sey, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freygebiger war er im Geben, und wir brachten die in¬ teressantesten Stunden zusammen zu. Meine übrigen angefangenen Naturstudien suchte ich fortzusetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden will; so gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬ fache. Was die Fülle dieser wenigen Wochen betrifft, welche wir zusammen lebten, kann ich wohl sagen, daß alles, was Herder nach¬
Ich ward mit der Poeſie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne be¬ kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen, der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬ kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬ ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬ haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger war er im Geben, und wir brachten die in¬ tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬ fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0483"n="475"/><p>Ich ward mit der Poeſie von einer ganz<lb/>
andern Seite, in einem andern Sinne be¬<lb/>
kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen,<lb/>
der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬<lb/>
kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger <hirendition="#g">Lowth</hi><lb/>
geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren<lb/>
Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns<lb/>
antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬<lb/>
ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬<lb/>
haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht<lb/>
ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten<lb/>
Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je<lb/>
heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger<lb/>
war er im Geben, und wir brachten die in¬<lb/>
tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine<lb/>
uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich<lb/>
fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug<lb/>
hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo<lb/>
gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬<lb/>
fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen<lb/>
betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann<lb/>
ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[475/0483]
Ich ward mit der Poeſie von einer ganz
andern Seite, in einem andern Sinne be¬
kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen,
der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬
kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth
geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren
Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns
antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬
ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬
haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht
ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten
Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je
heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger
war er im Geben, und wir brachten die in¬
tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine
uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich
fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug
hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo
gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬
fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen
betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann
ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/483>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.