welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und indem sie sich durch Lesung der Schrift und wohlgemeynter Bücher, durch wechsel¬ seitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Cultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn indem das Interesse, das sie stets be¬ gleitete und das sie in Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohlthuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bey Menschen von so beschränkten Zuständen vorkommen können, von geringer Bedeutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewöhn¬ lich heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine wahrhaft natürliche Cultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß sie allen Altern und Ständen gemäß und ih¬ rer Natur nach allgemein gesellig war; des¬ halb auch diese Personen, in ihrem Kreise, wirklich beredt und fähig waren, über alle Herzensangelegenheiten, die zartesten und tüch¬
welche auf ihre eigne Hand ihr Heil ſuchten, und indem ſie ſich durch Leſung der Schrift und wohlgemeynter Buͤcher, durch wechſel¬ ſeitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Cultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn indem das Intereſſe, das ſie ſtets be¬ gleitete und das ſie in Geſellſchaft unterhielt, auf dem einfachſten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohlthuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bey Menſchen von ſo beſchraͤnkten Zuſtaͤnden vorkommen koͤnnen, von geringer Bedeutung ſind, und daher ihr Gewiſſen meiſtens rein und ihr Geiſt gewoͤhn¬ lich heiter blieb: ſo entſtand keine kuͤnſtliche, ſondern eine wahrhaft natuͤrliche Cultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß ſie allen Altern und Staͤnden gemaͤß und ih¬ rer Natur nach allgemein geſellig war; des¬ halb auch dieſe Perſonen, in ihrem Kreiſe, wirklich beredt und faͤhig waren, uͤber alle Herzensangelegenheiten, die zarteſten und tuͤch¬
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welche auf ihre eigne Hand ihr Heil ſuchten,
und indem ſie ſich durch Leſung der Schrift
und wohlgemeynter Buͤcher, durch wechſel¬
ſeitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen
trachteten, dadurch einen Grad von Cultur
erhielten, der Bewunderung erregen mußte.
Denn indem das Intereſſe, das ſie ſtets be¬
gleitete und das ſie in Geſellſchaft unterhielt,
auf dem einfachſten Grunde der Sittlichkeit,
des Wohlwollens und Wohlthuns ruhte, auch
die Abweichungen, welche bey Menſchen von
ſo beſchraͤnkten Zuſtaͤnden vorkommen koͤnnen,
von geringer Bedeutung ſind, und daher ihr
Gewiſſen meiſtens rein und ihr Geiſt gewoͤhn¬
lich heiter blieb: ſo entſtand keine kuͤnſtliche,
ſondern eine wahrhaft natuͤrliche Cultur, die
noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß
ſie allen Altern und Staͤnden gemaͤß und ih¬
rer Natur nach allgemein geſellig war; des¬
halb auch dieſe Perſonen, in ihrem Kreiſe,
wirklich beredt und faͤhig waren, uͤber alle
Herzensangelegenheiten, die zarteſten und tuͤch¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/389>, abgerufen am 27.11.2024.
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