Eben so wurden seine herrlichen Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtsinn, und sein köstliches Gemüth durch eine unbändige Lie¬ derlichkeit verunstaltet. Er hatte ein mehr rundes als ovales, offnes, frohes Gesicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Nase, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, sie zeugten von einer entschiedenen Fülle, ohne übertrie¬ ben groß zu seyn. Der Mund besonders war allerliebst durch übergeschlagene Lippen, und seiner ganzen Physiognomie gab es einen eige¬ nen Ausdruck, daß er ein Räzel war, d.h. daß seine Augenbrauen über der Nase zusam¬ menstießen, welches bey einem schönen Ge¬ sichte immer einen angenehmen Ausdruck von Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialität, Aufrichtigkeit und Gutmüthigkeit machte er sich bey allen Menschen beliebt; sein Gedächt¬ niß war unglaublich, die Aufmerksamkeit in den Collegien kostete ihm nichts; er behielt alles was er hörte und war geistreich genug, an allem einiges Interesse zu finden, und um
Eben ſo wurden ſeine herrlichen Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtſinn, und ſein koͤſtliches Gemuͤth durch eine unbaͤndige Lie¬ derlichkeit verunſtaltet. Er hatte ein mehr rundes als ovales, offnes, frohes Geſicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Naſe, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, ſie zeugten von einer entſchiedenen Fuͤlle, ohne uͤbertrie¬ ben groß zu ſeyn. Der Mund beſonders war allerliebſt durch uͤbergeſchlagene Lippen, und ſeiner ganzen Phyſiognomie gab es einen eige¬ nen Ausdruck, daß er ein Raͤzel war, d.h. daß ſeine Augenbrauen uͤber der Naſe zuſam¬ menſtießen, welches bey einem ſchoͤnen Ge¬ ſichte immer einen angenehmen Ausdruck von Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialitaͤt, Aufrichtigkeit und Gutmuͤthigkeit machte er ſich bey allen Menſchen beliebt; ſein Gedaͤcht¬ niß war unglaublich, die Aufmerkſamkeit in den Collegien koſtete ihm nichts; er behielt alles was er hoͤrte und war geiſtreich genug, an allem einiges Intereſſe zu finden, und um
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Eben ſo wurden ſeine herrlichen Naturgaben
durch einen unglaublichen Leichtſinn, und ſein
koͤſtliches Gemuͤth durch eine unbaͤndige Lie¬
derlichkeit verunſtaltet. Er hatte ein mehr
rundes als ovales, offnes, frohes Geſicht; die
Werkzeuge der Sinne, Augen, Naſe, Mund,
Ohren, konnte man reich nennen, ſie zeugten
von einer entſchiedenen Fuͤlle, ohne uͤbertrie¬
ben groß zu ſeyn. Der Mund beſonders war
allerliebſt durch uͤbergeſchlagene Lippen, und
ſeiner ganzen Phyſiognomie gab es einen eige¬
nen Ausdruck, daß er ein Raͤzel war, d.h.
daß ſeine Augenbrauen uͤber der Naſe zuſam¬
menſtießen, welches bey einem ſchoͤnen Ge¬
ſichte immer einen angenehmen Ausdruck von
Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialitaͤt,
Aufrichtigkeit und Gutmuͤthigkeit machte er
ſich bey allen Menſchen beliebt; ſein Gedaͤcht¬
niß war unglaublich, die Aufmerkſamkeit in
den Collegien koſtete ihm nichts; er behielt
alles was er hoͤrte und war geiſtreich genug,
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/359>, abgerufen am 25.11.2024.
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