dem unbeschäftigten Augenblick zu Hülfe kam. Dann gab ich meine Empfehlungsschreiben ab, und fand unter meinen Gönnern einen Han¬ delsmann, der mit seiner Familie jenen from¬ men, mir genugsam bekannten Gesinnungen ergeben war, ob er sich gleich, was den äußeren Gottesdienst betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabey ein ver¬ ständiger Mann und keineswegs kopfhängerisch in seinem Thun und Lassen. Die Tischgesell¬ schaft, die man mir und der man mich em¬ pfahl, war sehr angenehm und unterhaltend. Ein Paar alte Jungfrauen hatten diese Pen¬ sion schon lange mit Ordnung und gutem Er¬ folg geführt; es konnten ohngefähr zehen Personen seyn, ältere und jüngere. Von die¬ sen letztern ist mir am gegenwärtigsten einer, genannt Meyer, von Lindau gebürtig. Man hätte ihn, seiner Gestalt und seinem Gesicht nach, für den schönsten Menschen halten kön¬ nen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottri¬ ges in seinem ganzen Wesen gehabt hätte.
dem unbeſchaͤftigten Augenblick zu Huͤlfe kam. Dann gab ich meine Empfehlungsſchreiben ab, und fand unter meinen Goͤnnern einen Han¬ delsmann, der mit ſeiner Familie jenen from¬ men, mir genugſam bekannten Geſinnungen ergeben war, ob er ſich gleich, was den aͤußeren Gottesdienſt betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabey ein ver¬ ſtaͤndiger Mann und keineswegs kopfhaͤngeriſch in ſeinem Thun und Laſſen. Die Tiſchgeſell¬ ſchaft, die man mir und der man mich em¬ pfahl, war ſehr angenehm und unterhaltend. Ein Paar alte Jungfrauen hatten dieſe Pen¬ ſion ſchon lange mit Ordnung und gutem Er¬ folg gefuͤhrt; es konnten ohngefaͤhr zehen Perſonen ſeyn, aͤltere und juͤngere. Von die¬ ſen letztern iſt mir am gegenwaͤrtigſten einer, genannt Meyer, von Lindau gebuͤrtig. Man haͤtte ihn, ſeiner Geſtalt und ſeinem Geſicht nach, fuͤr den ſchoͤnſten Menſchen halten koͤn¬ nen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottri¬ ges in ſeinem ganzen Weſen gehabt haͤtte.
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dem unbeſchaͤftigten Augenblick zu Huͤlfe kam.
Dann gab ich meine Empfehlungsſchreiben ab,
und fand unter meinen Goͤnnern einen Han¬
delsmann, der mit ſeiner Familie jenen from¬
men, mir genugſam bekannten Geſinnungen
ergeben war, ob er ſich gleich, was den
aͤußeren Gottesdienſt betrifft, nicht von der
Kirche getrennt hatte. Er war dabey ein ver¬
ſtaͤndiger Mann und keineswegs kopfhaͤngeriſch
in ſeinem Thun und Laſſen. Die Tiſchgeſell¬
ſchaft, die man mir und der man mich em¬
pfahl, war ſehr angenehm und unterhaltend.
Ein Paar alte Jungfrauen hatten dieſe Pen¬
ſion ſchon lange mit Ordnung und gutem Er¬
folg gefuͤhrt; es konnten ohngefaͤhr zehen
Perſonen ſeyn, aͤltere und juͤngere. Von die¬
ſen letztern iſt mir am gegenwaͤrtigſten einer,
genannt Meyer, von Lindau gebuͤrtig. Man
haͤtte ihn, ſeiner Geſtalt und ſeinem Geſicht
nach, fuͤr den ſchoͤnſten Menſchen halten koͤn¬
nen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottri¬
ges in ſeinem ganzen Weſen gehabt haͤtte.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/358>, abgerufen am 25.11.2024.
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