uns selbst und was uns schadet und nutzt Acht zu haben; allein es ist keine Frage, daß bey der wunderlichen Idiosyncrasie der mensch¬ lichen Natur von der einen, und bey der un¬ endlichen Verschiedenheit der Lebensart und Genüsse von der andern, es noch ein Wun¬ der ist, daß das menschliche Geschlecht sich nicht schon lange aufgerieben hat. Es scheint die menschliche Natur eine eigne Art von Zä¬ higkeit und Vielseitigkeit zu besitzen, da sie alles was an sie herankommt oder was sie in sich aufnimmt überwindet, und wenn sie sich es nicht assimiliren kann, wenigstens gleichgül¬ tig macht. Freylich muß sie bey einem gro¬ ßen Exceß trotz alles Widerstandes den Ele¬ menten nachgeben, wie uns so viele endemische Krankheiten und die Wirkungen des Brannt¬ weins überzeugen. Könnten wir, ohne ängst¬ lich zu werden, auf uns Acht geben, was in unserem complicirten bürgerlichen und geselli¬ gen Leben auf uns günstig oder ungünstig wirkt, und möchten wir das was uns als
uns ſelbſt und was uns ſchadet und nutzt Acht zu haben; allein es iſt keine Frage, daß bey der wunderlichen Idioſyncraſie der menſch¬ lichen Natur von der einen, und bey der un¬ endlichen Verſchiedenheit der Lebensart und Genuͤſſe von der andern, es noch ein Wun¬ der iſt, daß das menſchliche Geſchlecht ſich nicht ſchon lange aufgerieben hat. Es ſcheint die menſchliche Natur eine eigne Art von Zaͤ¬ higkeit und Vielſeitigkeit zu beſitzen, da ſie alles was an ſie herankommt oder was ſie in ſich aufnimmt uͤberwindet, und wenn ſie ſich es nicht aſſimiliren kann, wenigſtens gleichguͤl¬ tig macht. Freylich muß ſie bey einem gro¬ ßen Exceß trotz alles Widerſtandes den Ele¬ menten nachgeben, wie uns ſo viele endemiſche Krankheiten und die Wirkungen des Brannt¬ weins uͤberzeugen. Koͤnnten wir, ohne aͤngſt¬ lich zu werden, auf uns Acht geben, was in unſerem complicirten buͤrgerlichen und geſelli¬ gen Leben auf uns guͤnſtig oder unguͤnſtig wirkt, und moͤchten wir das was uns als
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uns ſelbſt und was uns ſchadet und nutzt
Acht zu haben; allein es iſt keine Frage, daß
bey der wunderlichen Idioſyncraſie der menſch¬
lichen Natur von der einen, und bey der un¬
endlichen Verſchiedenheit der Lebensart und
Genuͤſſe von der andern, es noch ein Wun¬
der iſt, daß das menſchliche Geſchlecht ſich
nicht ſchon lange aufgerieben hat. Es ſcheint
die menſchliche Natur eine eigne Art von Zaͤ¬
higkeit und Vielſeitigkeit zu beſitzen, da ſie
alles was an ſie herankommt oder was ſie
in ſich aufnimmt uͤberwindet, und wenn ſie ſich
es nicht aſſimiliren kann, wenigſtens gleichguͤl¬
tig macht. Freylich muß ſie bey einem gro¬
ßen Exceß trotz alles Widerſtandes den Ele¬
menten nachgeben, wie uns ſo viele endemiſche
Krankheiten und die Wirkungen des Brannt¬
weins uͤberzeugen. Koͤnnten wir, ohne aͤngſt¬
lich zu werden, auf uns Acht geben, was in
unſerem complicirten buͤrgerlichen und geſelli¬
gen Leben auf uns guͤnſtig oder unguͤnſtig
wirkt, und moͤchten wir das was uns als
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/334>, abgerufen am 24.11.2024.
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