Genuß freylich behaglich ist, um der üblen Folgen willen unterlassen: so würden wir gar manche Unbequemlichkeit, die uns bey sonst ge¬ sunden Constitutionen oft mehr als eine Krank¬ heit selbst quält, leicht zu entfernen wissen. Leider ist es im Diätetischen wie im Morali¬ schen: wir können einen Fehler nicht eher ein¬ sehen, als bis wir ihn los sind; wobey denn nichts gewonnen wird, weil der nächste Fehler dem vorhergehenden nicht ähnlich sieht und also unter derselben Form nicht erkannt wer¬ den kann.
Beym Durchlesen jener Briefe, die von Leipzig aus an meine Schwester geschrieben wa¬ ren, konnte mir unter andern auch diese Be¬ merkung nicht entgehen, daß ich mich sogleich bey dem ersten academischen Unterricht für sehr klug und weise gehalten, indem ich mich, sobald ich etwas gelernt, dem Professor sub¬ stituirte und daher auch auf der Stelle didac¬ tisch ward. Mir war es lustig genug zu se¬ hen, wie ich dasjenige was Gellert uns im
Genuß freylich behaglich iſt, um der uͤblen Folgen willen unterlaſſen: ſo wuͤrden wir gar manche Unbequemlichkeit, die uns bey ſonſt ge¬ ſunden Conſtitutionen oft mehr als eine Krank¬ heit ſelbſt quaͤlt, leicht zu entfernen wiſſen. Leider iſt es im Diaͤtetiſchen wie im Morali¬ ſchen: wir koͤnnen einen Fehler nicht eher ein¬ ſehen, als bis wir ihn los ſind; wobey denn nichts gewonnen wird, weil der naͤchſte Fehler dem vorhergehenden nicht aͤhnlich ſieht und alſo unter derſelben Form nicht erkannt wer¬ den kann.
Beym Durchleſen jener Briefe, die von Leipzig aus an meine Schweſter geſchrieben wa¬ ren, konnte mir unter andern auch dieſe Be¬ merkung nicht entgehen, daß ich mich ſogleich bey dem erſten academiſchen Unterricht fuͤr ſehr klug und weiſe gehalten, indem ich mich, ſobald ich etwas gelernt, dem Profeſſor ſub¬ ſtituirte und daher auch auf der Stelle didac¬ tiſch ward. Mir war es luſtig genug zu ſe¬ hen, wie ich dasjenige was Gellert uns im
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Genuß freylich behaglich iſt, um der uͤblen
Folgen willen unterlaſſen: ſo wuͤrden wir gar
manche Unbequemlichkeit, die uns bey ſonſt ge¬
ſunden Conſtitutionen oft mehr als eine Krank¬
heit ſelbſt quaͤlt, leicht zu entfernen wiſſen.
Leider iſt es im Diaͤtetiſchen wie im Morali¬
ſchen: wir koͤnnen einen Fehler nicht eher ein¬
ſehen, als bis wir ihn los ſind; wobey denn
nichts gewonnen wird, weil der naͤchſte Fehler
dem vorhergehenden nicht aͤhnlich ſieht und
alſo unter derſelben Form nicht erkannt wer¬
den kann.
Beym Durchleſen jener Briefe, die von
Leipzig aus an meine Schweſter geſchrieben wa¬
ren, konnte mir unter andern auch dieſe Be¬
merkung nicht entgehen, daß ich mich ſogleich
bey dem erſten academiſchen Unterricht fuͤr
ſehr klug und weiſe gehalten, indem ich mich,
ſobald ich etwas gelernt, dem Profeſſor ſub¬
ſtituirte und daher auch auf der Stelle didac¬
tiſch ward. Mir war es luſtig genug zu ſe¬
hen, wie ich dasjenige was Gellert uns im
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/335>, abgerufen am 24.11.2024.
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