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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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schon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬
dichte, deren damals in jeder Woche mehrere
circulirten, ja besonders bey ansehnlichen Ver¬
heiratungen duzzendweise zum Vorschein ka¬
men, mit einem gewissen Neid betrachtet,
weil ich solche Dinge eben so gut ja noch
besser zu machen glaubte. Nun ward mir
die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen,
und besonders, mich gedruckt zu sehen. Ich
erwies mich nicht abgeneigt. Man machte
mich mit den Personalien, mit den Verhält¬
nissen der Familie bekannt; ich ging etwas
abseits, machte meinen Entwurf und führte
einige Strophen aus. Da ich mich jedoch
wieder zur Gesellschaft begab, und der Wein
nicht geschont wurde; so fing das Gedicht an
zu stocken, und ich konnte es diesen Abend
nicht abliefern. "Es hat noch bis Morgen
Abend Zeit, sagten sie, und wir wollen Euch
nur gestehen, das Honorar welches wir für
das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns
morgen noch einen lustigen Abend zu ver¬

ſchon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬
dichte, deren damals in jeder Woche mehrere
circulirten, ja beſonders bey anſehnlichen Ver¬
heiratungen duzzendweiſe zum Vorſchein ka¬
men, mit einem gewiſſen Neid betrachtet,
weil ich ſolche Dinge eben ſo gut ja noch
beſſer zu machen glaubte. Nun ward mir
die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen,
und beſonders, mich gedruckt zu ſehen. Ich
erwies mich nicht abgeneigt. Man machte
mich mit den Perſonalien, mit den Verhaͤlt¬
niſſen der Familie bekannt; ich ging etwas
abſeits, machte meinen Entwurf und fuͤhrte
einige Strophen aus. Da ich mich jedoch
wieder zur Geſellſchaft begab, und der Wein
nicht geſchont wurde; ſo fing das Gedicht an
zu ſtocken, und ich konnte es dieſen Abend
nicht abliefern. „Es hat noch bis Morgen
Abend Zeit, ſagten ſie, und wir wollen Euch
nur geſtehen, das Honorar welches wir fuͤr
das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns
morgen noch einen luſtigen Abend zu ver¬

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[408/0424] ſchon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬ dichte, deren damals in jeder Woche mehrere circulirten, ja beſonders bey anſehnlichen Ver¬ heiratungen duzzendweiſe zum Vorſchein ka¬ men, mit einem gewiſſen Neid betrachtet, weil ich ſolche Dinge eben ſo gut ja noch beſſer zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und beſonders, mich gedruckt zu ſehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Perſonalien, mit den Verhaͤlt¬ niſſen der Familie bekannt; ich ging etwas abſeits, machte meinen Entwurf und fuͤhrte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch wieder zur Geſellſchaft begab, und der Wein nicht geſchont wurde; ſo fing das Gedicht an zu ſtocken, und ich konnte es dieſen Abend nicht abliefern. „Es hat noch bis Morgen Abend Zeit, ſagten ſie, und wir wollen Euch nur geſtehen, das Honorar welches wir fuͤr das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns morgen noch einen luſtigen Abend zu ver¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/424>, abgerufen am 25.11.2024.