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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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zücken, sprang auf und wollte sie umar¬
men. -- "Nicht küssen! sagte sie: das ist
so was Gemeines; aber lieben wenn's mög¬
lich ist." Ich hatte das Blatt zu mir ge¬
nommen und eingesteckt. Niemand soll es
erhalten, sagte ich, und die Sache ist abge¬
than! Sie haben mich gerettet. -- "Nun
vollenden Sie die Rettung, rief sie aus:
und eilen fort, ehe die Andern kommen, und
Sie in Pein und Verlegenheit gerathen."
Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; sie
aber bat mich so freundlich, indem sie mit
beyden Händen meine Rechte nahm und lie¬
bevoll drückte. Die Thränen waren mir
nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu
sehen; ich drückte mein Gesicht auf ihre
Hände und eilte fort. In meinem Leben
hatte ich mich nicht in einer solchen Verwir¬
rung befunden.

Die ersten Liebes-Neigungen einer unver¬
dorbenen Jugend nehmen durchaus eine gei¬

zuͤcken, ſprang auf und wollte ſie umar¬
men. — „Nicht kuͤſſen! ſagte ſie: das iſt
ſo was Gemeines; aber lieben wenn's moͤg¬
lich iſt.“ Ich hatte das Blatt zu mir ge¬
nommen und eingeſteckt. Niemand ſoll es
erhalten, ſagte ich, und die Sache iſt abge¬
than! Sie haben mich gerettet. — „Nun
vollenden Sie die Rettung, rief ſie aus:
und eilen fort, ehe die Andern kommen, und
Sie in Pein und Verlegenheit gerathen.“
Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; ſie
aber bat mich ſo freundlich, indem ſie mit
beyden Haͤnden meine Rechte nahm und lie¬
bevoll druͤckte. Die Thraͤnen waren mir
nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu
ſehen; ich druͤckte mein Geſicht auf ihre
Haͤnde und eilte fort. In meinem Leben
hatte ich mich nicht in einer ſolchen Verwir¬
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[404/0420] zuͤcken, ſprang auf und wollte ſie umar¬ men. — „Nicht kuͤſſen! ſagte ſie: das iſt ſo was Gemeines; aber lieben wenn's moͤg¬ lich iſt.“ Ich hatte das Blatt zu mir ge¬ nommen und eingeſteckt. Niemand ſoll es erhalten, ſagte ich, und die Sache iſt abge¬ than! Sie haben mich gerettet. — „Nun vollenden Sie die Rettung, rief ſie aus: und eilen fort, ehe die Andern kommen, und Sie in Pein und Verlegenheit gerathen.“ Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; ſie aber bat mich ſo freundlich, indem ſie mit beyden Haͤnden meine Rechte nahm und lie¬ bevoll druͤckte. Die Thraͤnen waren mir nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu ſehen; ich druͤckte mein Geſicht auf ihre Haͤnde und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in einer ſolchen Verwir¬ rung befunden. Die erſten Liebes-Neigungen einer unver¬ dorbenen Jugend nehmen durchaus eine gei¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/420>, abgerufen am 02.09.2024.