Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

aber doch geradezu und ohne besondre Nei¬
gung sich zu unterrichten, suchte er lieber die
Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem
er von der Mutter alles was er wünschte,
erhalten konnte. Ich hingegen näherte mich
dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn
kennen lernte. Da er sich nur bedeutender
Rechtsfälle annahm, so hatte er Zeit genug
sich auf andre Weise zu beschäftigen und zu
unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn
gelebt und seine Lehren vernommen; als ich
wohl merken konnte, daß er mit Gott und
der Welt in Opposition stehe. Eins seiner
Lieblingsbücher war Agrippa de vanitate
Scientiarum
, das er mir besonders empfahl,
und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit
lang in ziemliche Verwirrung setzte. Ich
war im Behagen der Jugend zu einer Art
von Optimismus geneigt, und hatte mich
mit Gott oder den Göttern ziemlich wieder
ausgesöhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬
ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß

aber doch geradezu und ohne beſondre Nei¬
gung ſich zu unterrichten, ſuchte er lieber die
Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem
er von der Mutter alles was er wuͤnſchte,
erhalten konnte. Ich hingegen naͤherte mich
dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn
kennen lernte. Da er ſich nur bedeutender
Rechtsfaͤlle annahm, ſo hatte er Zeit genug
ſich auf andre Weiſe zu beſchaͤftigen und zu
unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn
gelebt und ſeine Lehren vernommen; als ich
wohl merken konnte, daß er mit Gott und
der Welt in Oppoſition ſtehe. Eins ſeiner
Lieblingsbuͤcher war Agrippa de vanitate
Scientiarum
, das er mir beſonders empfahl,
und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit
lang in ziemliche Verwirrung ſetzte. Ich
war im Behagen der Jugend zu einer Art
von Optimismus geneigt, und hatte mich
mit Gott oder den Goͤttern ziemlich wieder
ausgeſoͤhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬
ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0396" n="380"/>
aber doch geradezu und ohne be&#x017F;ondre Nei¬<lb/>
gung &#x017F;ich zu unterrichten, &#x017F;uchte er lieber die<lb/>
Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem<lb/>
er von der Mutter alles was er wu&#x0364;n&#x017F;chte,<lb/>
erhalten konnte. Ich hingegen na&#x0364;herte mich<lb/>
dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn<lb/>
kennen lernte. Da er &#x017F;ich nur bedeutender<lb/>
Rechtsfa&#x0364;lle annahm, &#x017F;o hatte er Zeit genug<lb/>
&#x017F;ich auf andre Wei&#x017F;e zu be&#x017F;cha&#x0364;ftigen und zu<lb/>
unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn<lb/>
gelebt und &#x017F;eine Lehren vernommen; als ich<lb/>
wohl merken konnte, daß er mit Gott und<lb/>
der Welt in Oppo&#x017F;ition &#x017F;tehe. Eins &#x017F;einer<lb/>
Lieblingsbu&#x0364;cher war <hi rendition="#aq">Agrippa de vanitate<lb/>
Scientiarum</hi>, das er mir be&#x017F;onders empfahl,<lb/>
und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit<lb/>
lang in ziemliche Verwirrung &#x017F;etzte. Ich<lb/>
war im Behagen der Jugend zu einer Art<lb/>
von Optimismus geneigt, und hatte mich<lb/>
mit Gott oder den Go&#x0364;ttern ziemlich wieder<lb/>
ausge&#x017F;o&#x0364;hnt: denn durch eine Reihe von Jah¬<lb/>
ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[380/0396] aber doch geradezu und ohne beſondre Nei¬ gung ſich zu unterrichten, ſuchte er lieber die Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem er von der Mutter alles was er wuͤnſchte, erhalten konnte. Ich hingegen naͤherte mich dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn kennen lernte. Da er ſich nur bedeutender Rechtsfaͤlle annahm, ſo hatte er Zeit genug ſich auf andre Weiſe zu beſchaͤftigen und zu unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und ſeine Lehren vernommen; als ich wohl merken konnte, daß er mit Gott und der Welt in Oppoſition ſtehe. Eins ſeiner Lieblingsbuͤcher war Agrippa de vanitate Scientiarum, das er mir beſonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit lang in ziemliche Verwirrung ſetzte. Ich war im Behagen der Jugend zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Goͤttern ziemlich wieder ausgeſoͤhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬ ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/396
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/396>, abgerufen am 16.06.2024.